20 Jahre Selekta-Shop – der Dino aus der Schanze

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“Der letzte seiner Art” hört sich ganz schön dramatisch an. Im Falle des Selekta Reggae Record Shops mag man dies zudem kaum glauben, aber der muggelige Laden in der Bartelstraße 11 ist tatsächlich der letzte reine Reggae-Plattenladen in Deutschland. Wir sprachen mit dem Mann, der seit 20 Jahren die Vinyl-Flagge hoch- und das Geschäft zusammenhält: Ingo Schepper.

Nimm uns doch mal mit auf Zeitreise. Wie war das damals, was hat dich veranlasst, den Laden aufzumachen?

Ich fing quasi als DJ an und wir brauchten einfach einen Schallplattenladen, der sich auf Reggae/ Dancehall spezialisiert. Die Szene war extrem aktiv damals. Anfang der 90er hatte ich einen illegalen Club unten am Hafen und hab dort die ersten Soundsysteme spielen lassen, Pensi, Ire HiFi, Tom Fleischhauer und so. Wir haben da die ersten Reggae-Ragga-HipHop-Parties gestartet. UK Apache Indian haben wir einladen, Leute von der BDB Crew, Jamalski, aber auch Kunstausstellungen und so. Mit Oli hab ich dann noch das Soulkitchen an der Hafenstraße und den Tempelhof und so beschallert, alles legendäre Ecken, und spätestens mit der Gründung meines eigenen Love Tank Soundsystems brauchten wir Platten. Da gab’s welche bei Groove City, aber die waren mehr auf HipHop spezialisiert… deshalb wollte ich einen Laden machen! Ich hab lange gesucht, hab dann Hans Peters, den erklärten Fachmann für Studio One, Rocksteady und Roots, auf einer Auction kennengelernt. Ich hab nämlich mein Geschäft so angefangen, dass ich jeden Mittwoch in den Räumen vom Festwerk ne fette Bass Box aufgebaut hab, ein kleines Soundsystem, und da mit einem kleinen Stock, hauptsächlich Studio One aber auch ein paar andere aktuelle Scheiben, verkauft hab. Das war eine Auktion, zu der Kunden auch schon Platten mitbringen konnten und untereinander tauschen oder handeln konnten. Das war also jeden Mittwoch, und das behalte ich heute noch bei. Jeden ersten Freitag im Monat haben wir den Legendary First Friday im Selekta Shop, wo Nerds und Amüsierwillige vorbeikommen und ihre Privatplatten auktionieren können, das ist immer ein großer Spaß und wird gut angenommen.
So bin ich also Hans Peters zusammengekommen, der wollte damals auch einen Plattenladen machen. Wir haben eine Location gesucht, wo oben keiner drüber wohnt wegen den Bassschwingungen und so, und sind dann in die Bartelsstraße 11 gezogen. Dort war das gar kein Problem mit der Lautstärke, damals war die Schanze ja noch ein mehr oder weniger schäbiges Viertel mit kleinen Mieten, großer Ausländeranteil, Studenten, Junkies, das war sogar im Mietvertrag verankert, dass man wusste worauf man sich da einlässt (lacht). Wir haben dann den Laden nach Londoner Vorbild eröffnet, mit großem Tresen, ziemlich hoch, auf Brusthöhe, eine Doppel 15er Bassbox unter den Platten an den Fenstern, zwei sehr schöne runde Boxen, das gab einen schönen, runden, richtig fetten Sound. Wir haben am Anfang auch zwei Plattenspieler hinter dem Tresen gehabt und den ganzen Tag den Leuten non-stop Singles vorgespielt. Hans Peters hat mehr so die Oldschool-Sachen gemacht, Rocksteady und Roots, ich hab eher die Tanzhalle gemacht, Danchall und andere aktuelle Strömungen, das war schon was.

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Und wo habt ihr die Platten herbekommen?

Mein erster wichtiger Geschäftskontakt war Coxsone Dodd, ich war früher mal in New York und hab bei ihm fast vier Wochen im Laden gearbeitet, hab am Ende auch selbst verkauft und so… Von dem hatte ich immer schon Platten und Dubplates für Love Tank bekommen, das war echt ne Ausnahme, da hat er Original-Bänder rausgeholt und auch Sessions in Kngston gemacht und so. Das war wirklich sehr wichtig, er hat uns sehr gefördert. Er hat mir Platten so mitgegeben, die ich dann später bezahlt hab, er hat mich auch immer gefragt, wie so das Soundboy Ding ist bei uns, das lag ihm sehr am Herzen. Einmal im Jahr bin ich dann immer die Strecke Kingston – New York – London abgeflogen, hab vorher alles Geld was ich kriegen konnte zusammen gesammelt und dann ordentlich eingekauft. In Kingston hab ich da eine Europalette Singles klargemacht und rübergeschifft. Da hatte man ja nicht so die Verfügbarkeit wie heute mit dem Internet, den Zugriff auf die einzelnen Singles… da wusste man nur, was aus den großen Lagern von Penthouse, Dynamics, Star Trail, Studio One, Techniques und so kam, auch Orange Street mit Rockers, Prince Buster hatte grade schon dicht gemacht als ich anfing. Von den kleinen Läden kriegte man ab und zu ein Fax mit den Neuheiten, aber was hinten so schlummerte, das wusste man nicht. Das war also immer ein dickes Ding wenn die Leute wussten, dass ich mit nem Haufen Singles wieder komme, da war dann auch mal Schlange vorm Laden, das war eine andere Zeit und auch ein großer Spaß. Vor dem Internet hat es sich richtig gelohnt zu reisen!

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Gab es innerhalb der 20 Jahre Momente, in denen die Existenz auf der Kippe stand?

Ziemlich oft sogar, da gab es immer mal auch dunkle Seiten, in denen ich nervös auf dem Taschenrechner rumhackte. Wir hatten ganz lange Baustellen ringsherum, und eine hat uns wirklich fast fertig gemacht, da war über etliche Jahre in 80 cm Abstand ein fetter Kran vorm Laden, das war richtig heftig. Einen Buttersäureanschlag hatten wir auch mal, und zum Schluss war vor einem Jahr jetzt die Miete so teuer geworden, dass wir uns nach anderen Alternativen umschauen mussten.
Wir hatten früher in der direkten Nachbarschaft zwei Läden, einen Skaterladen und Sisterhood, da ist damals englische Mode verkauft worden, und mit denen haben wir dann die Konsumgemeinschaft Bartelstrasse gemacht. Das war so eine Spaßinsel, wo sich drei coole Läden in der Schanze zusammengeschlossen haben. Wir haben auch coole Aktionen gemacht, richtig viel Spaß gehabt zusammen. Als der Laden neben mit frei geworden ist, habe ich die Chance ergriffen und Reggae-affine Mode eingeführt, auch Ska, Rocksteady, Soul und so klassische englische Marken. Das macht mir viel Freude, weil ich auch auf den Style stehe, und war auch ein ganz wichtiger Punkt, weil es allein mit den Platten irgendwann nicht mehr weitergegangen wäre. So ging das gut auf und es gab eine Wechselwirkung: die Tonträger-Kunden interessierten sich auch für die Mode, und Modekunden lassen sich gern mit Musik anfixen. Da kam auch ein ganz neues Publikum, die fragen “Was läuft da?” und dann sag ich so und so, das kann man hier kaufen, und das harmonisiert sehr schön. Der Internetshop (www.selekta-shop.de) ist inzwischen eine gute Ergänzung, hat aber nicht die gleiche Intensität und Auswahl wie der Laden selbst.
Es war also immer mal eng, Handel ist Wandel, irgendwann sind die Dancehall-Singles auch ganz weg gebrochen, die wollte keiner mehr kaufen, das wurde nur noch über MP3 abgewickelt. Die Sammlerkundschaft ist dann auf Roots und Rocksteady umgestiegen, weil die einfach weiter sammeln wollten. Für mich war Dancehall nicht mehr so im Fokus, weil es mir ja immer um Platten ging und es kaum noch welche gab. Inzwischen wird da wieder einiges gemacht, dank den Kollegen von buyreggae aus Berlin oder dem Dubstore aus Japan oder in New York die Digi-Leute, da werden Perlen des Dancehalls als Re-Issues wieder aufgelegt. Aber das hat sich schon verändert, die 7-Inch, die im Dancehall ja auch als DJ-Tool wirkte, ist mehr auf den Sammlermarkt gegangen.

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Also spürst du auch die Wiederöffnung des Marktes für Vinyl? Was ist so deine Prognose?

Ja, also alle möglichen Leute holen ihre Plattenspieler wieder raus und die Presswerke kommen kaum hinterher… Da ist wieder einiges, was man verkaufen kann, was man den Kunden empfehlen kann, das macht schon Spaß. Vinyl wurde ja immer mal wieder totgesagt, auch als die CD aufkam und so, aber auch wenn die Platte einen kleinen Kreis hatte, waren die doch immer treu. Da kommen auch junge Leute nach inzwischen, das sind nicht nur Senioren (lacht). Klar ist es nicht mehr so wie früher, wo nach Schulschluss der Laden voll war und alle Platten wollten, weil es nichts anderes gab.

Wie ist denn überhaupt so die Kundenstruktur gerade?

Das sind mehr und mehr Sammler geworden, es ist kein reines Jugendding mehr. Da sind reifere Leute, die damit alt geworden sind, es gibt hier inzwischen wie auch in England einen klassischen Reggae-Markt, wo Leute einfach groß geworden sind mit der Musik und einfach weiter sammeln wollen. Die Dancehall-DJs legen ja nur noch mit MP3 auf, aber damit brauchst du in gewissen Szenen gar nicht um die Ecke kommen, also so die Roots, Ska, Rocksteady Fraktion, da kommst du gar nicht an die DJ-Pulte. Es gibt nach wie vor Leute, die strictly vinyl machen, das mach ich auch noch. Wir haben eine schöne Tradition, die Selekta-Night, wo wir früher auch Artists eingeladen haben, Peckings, Mike Brooks, Alton Ellis, alle möglichen Leute. Da legen neben mir auch Bob Brooks von Reggae Revive oder mein ehemaliger Partner Franky Lion und Hans Peters natürlich.

Also waren Veranstaltungen immer schon Teil des Konzepts?

Wir haben wie gesagt die Selekta Nights gemacht und parallel viel Auflegen drumherum in kleinen Bars. Einmal im Monat, an einem Samstag, haben wir auch über 15 Jahre die Palm Dancehall mit Love Tank gemacht, das war ein Regular im Knust, früher Schlachthof, zwischendurch mal im Echochamber, immer mit nem tollen MC aus England wie MC Chalice Nya oder Mystic Dan. Da haben wir immer viel Wert drauf gelegt, zwei- bis dreihundert Leute mit einer richtig schönen, fetten PA zu beschallern. Da hatten wir Gäste wie Lone Ranger, Tony Tuff, General Degree, Gregory Isaacs und so. Über den Laden haben wir dann auch Vertrieb gemacht von Love Tank Singles. Der Tribute to Sir Coxsone nach seinem Tod hatte beispielsweise weltweit Erfolg, auf dem gleichen Riddim wie Nothing Touch My 45 von Ray Darwin, das war auch sensationell. Ein Highlight war auch das Moll-Selekta Label, unter dem wir Platten mit Alton Ellis, Cornel Campbell, Mike Brooks, Bunny Lee Sachen und so herausgebracht haben, die auch international sehr gut angekommen sind.
Dann hatten wir, was ich noch anmerken muss, immer auch ein Straßenfest, da hat Blacky von Crucial Vibes seine Anlage vorm Laden aufgebaut, und das hatte auch immer ein wenig Flair vom London Carnival, im Kleinen natürlich (lacht). Bei uns war immer was los!

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Das war ja auch nie ein reiner Plattenladen, sondern immer auch Treffpunkt und Informationsbörse, oder?

Ja, auf jeden Fall! Für viele Leute, die nach Hamburg kommen, ist das auch der erste Stopp. Der Laden hat eine ideale Lage, hier liegen Flyer aus und man kann sich connecten. Wenn Künstler vor Ort waren, wie neulich Keith & Tex, die sind immer gern vorbei gekommen und haben sich gefreut, dass es so einen Laden gibt. Auch wichtige Schreiber aus New York oder Steve Barrow aus London kamen, es gab Foto-Sessions und Autogrammstunden, wir haben immer ganz tolle Leute kennen gelernt aus der internationalen Musikszene. Auch wenn Leute wie die Toten Hosen in der Stadt waren, die dann Reggae gekauft haben, oder andere Bands, von denen man gar nicht glaubt, dass sie Reggae-Liebhaber sind. Durch den Laden waren also immer ganz viele internationale Leute da, egal ob Künstler oder Kunden, und haben Neuigkeiten ausgetauscht. Man muss auch einfach sagen, den Laden macht man nicht, um Geld zu scheffeln, man will natürlich über die Runden kommen, aber… Der Arbeitsaufwand wird einfach dadurch entschädigt, dass die Kunden sagen geil, einmalig, toller Laden, das ist so das Salz in der Suppe. Es ist ja auch der letzte Reggae-Laden in Deutschland, der mit wirklich engagierten Mitarbeitern über die Jahre gewachsen ist. Da können wir schon stolz drauf sein!
Hamburg hat eine einmalige Plattenladendichte, da ist jetzt auch ein Buch raus gekommen, ein ganz tolles Buch von einem Pariser Ehepaar, über Hamburger Plattenläden. Und das ist diese Dichte, das sagen selbst Leute aus London oder so, da ist Hamburg einmalig, für Deutschland sowieso, so eine Dichte an Plattenläden in der Schanze. Das war früher das Epizentrum für Reggae in Hamburg, das auch in die Republik oder international ausgestrahlt hat. Blacky wohnt umme Ecke, Silly Walks ist umme Ecke, die auch wieder tolle Produktionen machen, dann die Flora, die eher so Abenteuerspielplatz war für alle Reggaeisten, dann gab’s noch ein Studio von Pensi Ire HiFi umme Ecke… Die Schanze ist da irgendwie schon sehr speziell, und das war für die Nach-80er eine sehr wichtige Entwicklungsphase für Reggae in Hamburg.

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Dann bleibst du der Schanze doch hoffentlich erhalten? Du erwähntest vorhin, dass du dich wegen der Mietpreise nach Alternativen umschauen musstest…

Ich hatte eine neue Dependance im Hafen aufgemacht, in der Bernhard-Nocht-Straße, das war ja auch mein altes Revier. Da bin ich inzwischen wieder raus, aber das war ein Versuch, sich noch mal neu aufzustellen. Wir haben da ganz tolle Ausstellungen gemacht, natürlich auch Musik-Affines wie der Mexikaner Gran Om oder der Eyedealist, Matthew McCarthy aus Jamaika, das war eine neue Erfahrung. Wir hatten auch so kleine regelmäßige DJ-Sessions, aber leider konnten sich die Veranstaltungen nicht so durchsetzen, weil das den Nachbarn zu laut war und der Vermieter auch nicht einfach ist. Das war also auch ein sehr schwieriges Jahr mit viel Anwalt-Kram und so, aber die eigentliche Sache hat sehr viel Spaß gemacht.
Ich habe nun endlich eine neue Heimat gefunden, am Schulterblatt 18. Das ist ein ganz toller neuer Raum, mit schöner alten Patina, da freue ich mich tierisch drauf. Ich geh natürlich aus so nem alten Laden, den man 20 Jahre eingerichtet hat und in dem jede Ecke nach Selekta duftet, schweren Herzens raus, aber das ließ sich leider nicht vermeiden. Das war auch ne kleine Odyssee dieses Jahr, aber letztendlich sind wir an einem tollen neuen Standort gleich umme Ecke vom alten Laden, es bleibt also in der Nachbarschaft. Die anderen Plattenläden, Groove City, Slam oder sonst wer, aber auch Geschäftsleute und Kunden haben mir tausend Tipps gegeben, wo was frei wird. Da haben alle mitgesucht, das war eine innere Bestätigung, dass da ganz viele Leute Anteil genommen haben und mir ermöglichen wollten, im Schanzenviertel zu bleiben. Letztendlich bin ich durch den Tipp von einer Kundin auf die neuen Räume gestoßen. Das ist eine ganz tolle Location, ein schöner großer Raum, unterkellert, wo eventuell auch Ausstellungen möglich sind, so dass man das vielleicht weiter führen kann. Das ist alles noch sehr neu, aber das bietet viele Möglichkeiten.

Wann ist die Eröffnung?

Eröffnung ist Anfang Februar. Da kann man sich auch wieder inhaltlich mehr konzentrieren auf das Kerngeschäft, auf die eigentlichen Platten, das hat schon ein wenig gelitten in den letzten Monaten durch die Organisation der Galerie und so. Das wird noch mal spannend, der Umzug und die Neueinrichtung!

Text & Fotos: Gardy Stein

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About Gardy

Gemini, mother of two wonderful kids, Ph.D. Student of African Linguistics, aspiring author...