Grammy Reggae-Album 2017/18 oder: Das Verhältnis USA/Jamaika – Eine Analyse

Damian Marley hat gewonnen. Ordnen wir das mal ein….

 

Als Protoje sein Video zu “Blood Money” am 25. Juli 2017 hoch lud und am 28. Juli bewarb, waren es noch ein paar Tage. Drei Tage, bis man ein “Jubiläum” feiern konnte. Das Jubiläum dessen, was am 31. Juli 1962 erst die Phänomene im Song “Blood Money” möglich machen konnte. Am 31. Juli 1962 gründete Jamaika seine erste eigene Armee. Wenige Tage später wurde es offiziell auch politisch von Großbritannien unabhängig. Doch Protoje beschreibt, dass die Bewaffnung dieses Landes heute korrupten Interessenverquickungen dient. Mit Geld werden schmutzige Geschäfte gemacht. Die Leute, die sie machen, wissen: Mit ihrem Geld können sie bei der Regierung anklopfen und “Probleme” mittels staatlicher Polizei oder staatlichen Militärs aus dem Weg räumen lassen. Ihr Geld wird zum “Blood Money”. Die Geschäfte selbst sind dreckig, die Umstände sind dreckig. Die Druckmittel sind dreckig. Tote Säuglinge verschwinden aus Krankenhäusern. Offen wird Müll verbrannt, in Wohngegenden.

Die USA & Jamaika

Da es an Perspektiven für junge Leute nicht sprudelt, bleibt’s dabei: Auswanderung, fachsprachlich “Emigration” in die USA findet weiterhin in einem solchen Umfang statt, dass die Auswandernden in Jamaika längst eine Partei der US-Exilanten aufmachen könnten und locker “5%-Hürden” übersprängen. Damian Marley steht wie wenige jamaikanische Künstler/innen für genau diese magnetische Anziehungskraft der USA. Und 55,5 Jahre nach der Unabhängigkeit von den Briten lässt sich fast schon feststellen: Eine Abhängigkeit von den USA kennzeichnet das heutige Jamaika.

Zum Einen ist die Zahl der Migrantinnen und Migranten im Jahr 2016 (dabei ist 2017 noch nicht ausgewertet) erstmals seit Jahren gestiegen. Von 17.362 auf 22.833 registrierte Personen aus Sicht des US-Ministeriums für “Heimatschutz”. Gleichermaßen ist auch die Anzahl derjenigen Jamaikaner/innen mit neu erworbenem dauerhaften Aufenthaltsstatus (Green Card) in den USA – auf die ganzen letzten zehn Jahre gerechnet – hoch. Von 2007 bis 2016 ließen sich 199.245 ehemals jamaikanische Steuerzahler/innen in den USA so fest nieder, dass sie nun dort steuerpflichtig sind – Einnahmen, die dem Fiskus auf Jamaika fehlen … und entgangene Einnahmen, welche die Regierung abhängiger vom “Blood Money” machen. Dramatisch ist das auch im Verhältnis zur Einwohnerzahl: 2,9 Millionen Einwohner/innen hat die Insel offiziell zum Jahresende 2017. Die Bevölkerungsentwicklung ist zwar stabil – durch die Geburtenrate kommt sogar trotz der Abwanderung ein leichtes Plus von 0,1 bis 0,2% jährlich zustande, also etwa 3.000 bis 6.000 zusätzliche Menschen. Das heißt aber auch noch etwas anderes: Jede/r vierzehnte bis fünfzehnte von denen, die vor einem Jahrzehnt auf Jamaika lebten, ist inzwischen in den USA gelandet. Und: Damit habe ich nur ein einzelnes Einwanderungsland herausgegriffen. Auswanderungs-“Cluster”, also Orte mit bestehenden Immigranten-Communities, die von weiteren Glückssuchern angestrebt werden, finden sich z.B. in England (London, Birmingham, Bristol oder auch Brixton, man denke an den Song “Guns Of Brixton” von The Clash), in Neuseeland und Kanada (z.B. Toronto). Das Allerkrasseste: Diese Auswanderung hat in den 1980er Jahren eine relevante Größe bekommen und sich seither nicht mehr beruhigt.

Zu der quantitativen Abwanderung kommt die qualitative, denn passiert genau das, was angeblich bei der Migration zu uns passiert: Gerade die Hoch- oder Höherqualifizierten fehlen, kehren ihrer ohnehin weniger “entwickelten” Volkswirtschaft den Rücken. Der “Brain Drain” in die USA wird von Damian “Jr. Gong” Marley, und nicht nur von ihm, schon mal medienwirksam vorgeführt: Seht her, in Amerika erreicht man seine Ziele! Der Junior Gong hat tatsächlich sein Debütalbum anno 1996 in den Tuff Gong-Studios aufgenommen. Einen Grammy bekam er nicht. Dabei stand er auch damals als Marley-Sohn im Medienfokus.

Die Marleys & der Grammy Award

Die Konkurrenz war damals, 1996, eine harte: Bruder Ziggy war mit “Free Like We Want 2 Be” nominiert. Shaggy, der auch gewann, hatte aus “Boombastic” mehrere erfolgreiche Singles ausgekoppelt. Burning Spear war mit “Rasta Business” vorgeschlagen. Auch die Skatalites hatten 1996 eine Nominierung für den Grammy. Das nächste Album, Ende 2001 veröffentlicht, konnte Damian Marley über Motown auf den Markt bringen, das US-amerikanische Soul-Label. Er gewann gegen Bruder Ky-Mani, gegen Beres Hammond wie auch Luciano. Alle seine folgenden Alben – denn es gab im klassischen Longplayer-Sinne nur zwei – gewannen ebenfalls den Grammy für das Reggae-Album des Jahres: einmal, im Jahr 2006 “Welcome To Jamrock”, wo nun Shaggy verlor (“Clothes Drop”, heute sowieso ein vergessenes Album). Und nun wieder, 2018: “Stony Hill”.

Der Name “Marley” insgesamt (Ziggy, Stephen, Damian, Ky-Mani, Bob und Rita) wurde übrigens 24 Mal in 34 Jahren Grammy-Geschichte nominiert und gewann 14 Mal:

1989, 1990, 1998, 2007, 2014, 2015 und 2017 trug Ziggy Marley das goldene Grammophon nach Hause. Bunny Wailer konnte mit einem Tribute-Album an Bob die Jury überzeugen (1997), und an Stephen Marley ging der Preis in den Jahren 2008, 2010 und 2012.

Die USA, der Grammy & Jamaika

Die Grammy Award-Verleihung war stets eine so amerikanisch geprägte Veranstaltung wie die Oscar-Verleihung. Im Jahre 1985 wurde das erste Mal für das Genre Reggae eine Sparte aufgemacht, für das Reggae-Album des Vorjahres. Fünf bis sechs Alben werden jedes Jahr in die engere Auswahl genommen – eines gewinnt. Seit 2011 kippelt die jamaikanische Vormachtstellung. Die Nominierungen waren durchweg auf Jamaika abonniert. Damals standen gleich zwei Alben unter Beteiligung von Sly & Robbie immerhin Buju Banton zurück, und kein Verleihungsjahr erzeugte so viel Medienecho. Bizarr war, dass man sich damals nicht durchringen konnte, dem gerade verstorbenen Gregory Isaacs ein Denkmal zu setzen. Für ihn blieb es posthum dabei, eben einmal nominiert worden zu sein. Was aber auch eine interessante Randerscheinung war: Erstmals nach Damian Marleys “Welcome To Jamrock” war eine internationale Produktion vorgeschlagen. Denn Sly & Robbie hatten sich mit dem französischen House-Produzenten Bob Sinclar getroffen und “mal was anderes” gemacht.

2014 unterlag der Kalifornier Snoop Dogg, war aber im Kreise der Top 5. SOJA, im Folgejahr nominiert, kommen aus Virginia. Sly & Robbie wurden mit einem recht internationalen Album nominiert, auf dem amerikanische und jamaikanische Gäste gefeatured wurden. 2016 war mit Rocky Dawuni innovativerweise mal ein Ghanaer unter den fünf Vorschlägen. Im Jahr 2017 waren mit SOJA (Virginia, USA), J Boog (Kalifornien, USA) und Rebelution (auch Kalifornien) gleich drei von sechs Reggae-Alben amerikanischer Herkunft. Raging Fyah profitierten für ihre Nominierung teils von J Boog als Featured Artist und teils von ihren Verkäufen in den USA, waren lange in den US Billboard Reggae Album Charts weit oben.

  

 

Für 2018 nun standen an Alben zur Auswahl:

  • Chronixx “Chronology”
  • Common Kings “Lost In Paradise”
  • J Boog “Wash House Ting”
  • Morgan Heritage “Avrakedabra”
  • und eben der Gewinner Damian Marley “Stony Hill”

Fazit: ein Jamaikaner mit internationaler Plattenfirma (Virgin Records als Teil von EMI), Common Kings aus dem Pazifik (Fiji, Hawaii, Samoa und Tonga), J Boog aus California, USA, Morgan Heritage aus New York und lebendes Beispiel als Kinder eines jamaikanischen Auswanderers, sowie ein Jamaikaner, der gerne mit amerikanischen Rappern kooperiert. Jamaika hat – so gesehen – seine Reggae-Kompetenz aus dem Blickwinkel der großen Plattenfirmen und deren Vertretern in der Jury abgegeben.

Die USA, Jamaika, Hiphop & Reggae

Dazu ist es nicht uninteressant zu sehen, wer den Grammy Award vergibt:  die NARAS Inc., das steht für National Academy of Recording Arts and Sciences. Ihr Ziel ist ursprünglich, die Arbeitssituation innerhalb des Musikbusiness für die aktiven Techniker/innen wie auch Musiker/innen attraktiver zu machen.

Erste These:

Entweder ist die Tendenz der letzten Jahre und die diesjährige Nominierungs-Auswahl als gutes Zeichen zu werten: Mit Reggae lässt sich auf einmal wieder Geld machen, vor allem in den USA – es geht aufwärts!

Oder, zweite These:

Jamaika liefert nicht – das wäre kein guter Befund. Meine persönliche Begeisterung für die Reggae-Alben von 2017 hält sich übrigens in Grenzen – ein Jahr vieler eingängiger Singles bis hin zu so ungewohnt kritischen Tönen wie denen von Protoje (eingangs genannt), war es wohl. Auf Album-Länge hielt die Kreativität selten an.

Damit zur dritten These:

Jamaikas allgemeine Lage und der allgemeine Druck im Business erschweren die Arbeit auch für Musiker/innen. So klagten mir gegenüber in Interviews etliche Musiker/innen über die quantitativen Bedingungen ihrer Arbeit: auf den sozialen Netzwerken präsent sein, Newcomer im Umfeld fördern, wenig Schlaf, Ochsentouren mit unattraktiven Slots, also Auftrittszeiten mittags oder nachts um 4 Uhr, wenig Raum für persönliche Reflexion und somit auch keine Zeit, die in den Texten angesprochenen spirituellen und philosophischen Inhalte im eigenen Leben zu vertiefen. Richtig gejammert hat keiner – aber es machte auch keiner der 30 von mir Interviewten den Eindruck, als könne er/sie Bäume ausreißen oder hätte einen Puffer, könnte sich mal einen Fehler erlauben, eine Auszeit nehmen oder entspannt den Dingen ihren Lauf lassen.

Die vierte These:

Die Jury will Jamaika gar nicht fördern – Reggae ist ja bereits ein globaler Trend. Ob nun die fünf von der Jury erwählten Alben alle so sehr herausragten? Dasjenige von Chronixx wurde wohl mehr als die anderen vier durch viele seiner einzelnen Tracks bekannt und nicht nur durch 1-2 Singles, ist aber das jamaikanischste der fünf Werke. Die Jury würde das anders verkaufen und sagen: Ein Bob Marley-Nachkomme hat gewonnen – hoch lebe Jamaika. Aber genau Damian Marley hat die Fusion von Hiphop & Reggae befördert wie kein anderer. Nicht nur näherten sich die Stile bei ihm an, auf “Welcome To Jamrock” war vieles Hiphop. Von der so geschlagenen Schneise profitieren heute andere in Jamaika, die froh sind, dass Hiphop kein Tabu oder Neuland für Reggaesänger/innen mehr sein muss. Da darf dann auch die Saxophon-Linie aus dem Soul-Titel “Underneath The Red Moon” (Randy Crawford) zum tragenden Baustein werden:

Außer den Singles mit Nas wie “As We Enter” und “Road To Zion” gab’s Kooperationen mit Bobby Brown (aus Boston), Treach (aus Jersey City), Drag-On (aus der New Yorker Bronx), Eve (aus Philadelphia), Black Thought (aus Philadelphia) und einigen anderen. Beteiligte Toningenieure und A&R-Manager waren (männliche) US-Amerikaner. Er arbeitete mit dem kalifornischen Dubstep-/Elektronik-Produzenten Skrillex. Strukturell ist der Junior Gong also nicht nur mit den üblichen Zentren jamaikanischer Auswanderung innerhalb der USA (Miami, Orlando, New York, Atlanta) verknüpft, sondern querbeet durch die Vereinigten Staaten vernetzt. Die kulturelle Abhängigkeit Jamaikas von den USA drückt sich hierin nicht weniger aus als die deutscher Fußballvereine von südeuropäischen Transferkauf-Spielern.

Die fünfte These:

Das Amerikanisierte verändert letztlich die Musik. Nimmt man mal “Medication”, eine der Singles aus dem preisgekrönten Album, hat man hier einen fluffigen R’n’B- oder Soul-Popsong. Hätte man von vielen der aktuellen Jamaikaner-Generation, die fünf, zehn oder fünfzehn Jahre jünger als Damian sind, aber auch bekommen – Perfect, Jesse Royal, Blvk H3ro. Die Message dieses Grammys ist für mich: Reggae ist unter Verkaufsgesichtspunkten ein beiläufiges Subgenre im Rahmen der diversen Offbeat-Genres.

Und: Damian Marley selbst ist schon wieder eine Trendstufe weiter: “So Am I”, eine Single, die nicht auf dem Grammy-Album enthalten ist, transzendiert die ganzen vertrauten Stile, Hiphop/Rap, Soul/R’n’B, Reggae/Dub, Reggaeton/Latin Grooves, Dancehall/Soca, House/Acid Jazz, Funk/Disco und so fort. “So Am I” ist ein elektronischer Dance Tune – mit Einschlägen einer aufgelockerten Form von Afrotrap, mit Vocoder-Effekten und jojo-hüpfenden Tonschnippseln, im Großen & Ganzen Tropical House, irgendwie auch mit Blue Notes in den Harmonien und Offbeat im Rhythmus: so gehört, “Black Music”, aber künstlich und übertrieben zeitgemäß. Musik für die Klingelton-Ära.

Philipp Kause

About Philipp Kause

Philipp hat Musikethnologie studiert und verschiedenste Berufe in Journalismus, Marketing, Asylsozialberatung und als kaufmännischer Sachbearbeiter ausgeübt – immer jedenfalls stellt er Menschen Fragen. Er lebt zurzeit in Nürnberg, wo er die Sendung „Rastashock“ präsentiert, die seit 1988 auf Radio Z läuft.