Gentleman „Blaue Stunde“ (Universal Urban)

Gentleman
„Blaue Stunde“
(Universal Urban – 2020)

Es war damals ein stetiger Prozess und eine erstaunliche Wandlung für Gentleman. Von bescheidenen Sound System Anfängen, wo noch Hip-Hop und Dancehall im Spiel waren, über ausgedehnte Jamaika-Reisen, wo er den heimischen Dialekt Patwa perfektionierte, bis zu ersten Solo-Alben mit denen er sogar in Jamaika großen Respekt erlangte.

Und während in Deutschland die Industriemaschinerie das Bruttoinlandsprodukt Montag für Montag immer weiter steigerte, legte Gentleman seine produktiven Ressourcen auf die spirituelle Wertschöpfung aus und begab sich auf die „Journey To Jah“ – so hieß sein zweites und eigentlich bestes Album aus dem Jahr 2002 – auf dessen Titelbild er, einem pazifistischen Che Guevara gleich, in der Karibik nach einem höheren Sinn meditierte. Und während er sich immer weiter auf die Suche begab, trug er den Reggae immer tiefer in die Mitte der deutschen Gesellschaft. So wurde Gentleman ganz nebenbei hierzulande zu einem großen, erfolgreichen und anerkannten Reggae-Künstler, dessen Verdienst für die Popularisierung des Reggae in Deutschland gar nicht zu unterschätzen ist.

Ein Alien in Köln

Er hat sich aber dadurch im eigenen Land zum Ausländer gemacht, auch wenn er sich mittlerweile als einen Weltbürger sieht. Heute kennt er das Dasein zwischen zwei Welten und ist so richtig zu Hause nur dann, wenn er unterwegs zwischen zwei Destinationen ist. Gentleman, geboren 1975 als Tillman Otto, Sohn eines Pfarrers und aufgewachsen in einem Kölner Randbezirk, hat Jamaika als geistige und musikalische Heimat vor dreißig Jahren erwählt. Nun ist sein Handlungskreis auf „Zwischen den Stühlen“ geschrumpft, wie er im gleichnamigen Lied zu wissen gibt. Die melancholische Gitarrenmatrix und ein flüssiger Roots-Beat geben den Ton an zwischen Alltag in Deutschland, Familie – er hat mittlerweile drei Kinder – und dem Dasein als Musiker aus einer anderen Sphäre. Er ist auch nachdenklicher geworden.

Auf seinem neuen Album „Blaue Stunde“, dem ersten auf Deutsch gesungen, ist die Gesellschaftskritik, die immer wieder bei Gentleman früher im Vordergrund stand, einer innigen Introspektive gewichen, die aber dafür tiefe Einblicke in sein aktuelles Seelenleben bietet. ‚Es ist alles viel zu hell / alles viel zu schnell‘ beklagt er in „Time Out“, das sich mitunter teilweise wie Stings „Englishman in New York“ anhört. Obwohl die westliche Störkulisse die rurale Gediegenheit Jamaikas abgelöst hat, kann Gentleman dem Ganzen auch etwas Positives abgewinnen. Auch wenn er nun überwiegend mit Gemeinplätzen hantiert, kann er ‚wieder die Sonne sehen‘ und hat ‚die Hoffnung nie verloren‘, heißt es im Eröffnungslied „Ahoi“, das mit einem Seemannsgruß die Rückkehr Gentlemans aus der Karibik auf den Kölner Rheinufer markiert.

Haushaltsgerät als Inspirationsquelle

Doch Gentleman scheint in letzter Instanz jemand zu sein, der sich von seiner Umwelt inspirieren lässt. Da sich anscheinend sein Lebensschwerpunkt nach Deutschland verlagert hat, ist dadurch auch eine für ihn wichtige Inspirationsquelle versiegt. Dieselbe, die beispielsweise die ersten beiden Alben „Trodin On“ und „Journey To Jah“ entstehen und ihn erst zum Reggae Star werden ließ. Stattdessen ist jetzt die TV-Sendung „Sing meinen Song“ da, wo sich die teilnehmenden Sänger*innen, einschließlich Gentleman, gegenseitig auf die Schulter klopfen und abfeiern. Der offensichtliche (und vielleicht daraus folgende?) Einfluss von Deutschpop und Hip-Hop, der zurzeit grassiert, hat dem neuen Album einen Bärendienst erwiesen. Im ersten Trap-Katastrophenpop der „Blauen Stunde“, „Devam“ mischen die Rapper Ezhel und Luciano auf Türkisch und Deutsch mit – mit all dem dazugehörigen Schnickschnack wie bauklotzartiger Produktion, Auto-Tune und Isch-Ismen (‚… isch hab‘ keine Zeit…‘).

Und es wird nicht besser. Im Gegenteil. Mit „Bruder“ bemüht Gentleman umgangssprachliche Schulhof-Turzismen um den Geist der Zeit einzufangen. Mit Liedern wie „Feierwahn“ oder „Bei dir sein“ und so ungefähr auf drei Viertel des Albums ist es so, als würde Gentleman Songs von jemanden anderen singen, jemanden, der es unbedingt in die Charts schaffen möchte. Dass dabei so ungelenkige Vergleiche wie in „Staubsauger“ zustande kommen, ist eher Regel als Ausnahme. Die gleiche aufpolierte, nichtssagende Gefühlsduselei mit aufgeblähten Synths und voll und ganz generischen Beats, die in der, mit kitschigen Streichern untermalten Ballade „Mehr als ich“, ihren traurigen Höhepunkt erreicht. Darin singt Gentleman ,da ist noch so viel auf dem Weg‘ – na hoffen wir mal nicht.

Zvjezdan Markovic

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About Zvjezdan Markovic

Immer auf der Suche nach neuen und alten Sounds, hat aber auch seit über 10 Jahren die schlechte Angewohnheit, darüber zu schreiben. (E-Mail zvjezdan[at]irieites.de)