Brain Damage meets Big Youth „Beyond The Blue“ (Jarring Effects)

Brain Damage meets Big Youth
„Beyond The Blue“
(Jarring Effects – 2021)

Er ist zwar immer noch groß, aber längst nicht mehr jung – wenn der Manley Augustus Buchanan, Jahrgang 1949 und besser bekannt unter dem Alias Big Youth, auf seinem neuen Album singt: ‚some people are dying too young, it makes you wanna scream‘ („Dying Too Young“), dazu eine monoton hypnotische Gitarrenbegleitung à la The Doors, dann meint er damit womöglich nicht nur den, während der Arbeiten an diesem Projekt tragischerweise an Corona verstorbenen Soundtüftler Samuel Clayton Jr., sondern auch die vielen seiner Weggefährten, die inzwischen nicht mehr unter uns weilen. Die Produzenten Sonia Pottinger, Gregory Isaacs, Joe Gibbs oder Keith Hudson, der einen Honda Motorrad ins Studio schob um den Sound für Big Youths ersten großen Hit „S90 Skank“ in den frühen 70ern aufzunehmen.

Aber auch viele seiner Mitstreiter wie der Bob Marley selbst, den er selbst mit der eigenen Popularität in Jamaika zeitweise überschattete, sind längst nicht mehr da. Kein Wunder also, dass sich dieser jamaikanische DJ und Sänger so langsam ziemlich frustriert und alleine fühlen muss. Erst im Februar dieses Jahres starb der legendäre Vater aller DJs U Roy, für den Big Youth damals, in der Anfangszeit der DJ-ischen Mikrofonakrobatik, der direkte Nachfolger und Konkurrent gleichermaßen war.

by Samuel Clayton

Ein Überlebender

Ja, diese Reggae-Ikone mit markantem Oberkiefer, dessen Vorderzähne mit roten, goldenen und grün eingearbeiteten Juwelen einen kuriosen Blickfang bieten, ist Kind einer anderen, längst vergangenen Zeit, die wir, die späteren Generationen nur noch bestenfalls aus Fernsehdokumentationen kennen.

Das wird allerspätestens klar, wenn er irgendwo in der Mitte seines neuen Albums den Vers ‚I don’t know much about history‘ anstimmt, würde man denken, was nun folgt, ist eine neue Version des alten Evergreens „Wonderful World“ von Sam Cooke aus 1960. Aber dem ist nicht so, denn bei „Biological Warfare“ handelt es sich um einen eigensinnigen, verschwörungstheoretischen Querdenker-Pamphlet über die Coronapandemie in Reimform. Big Youth war schon immer für’s gerade Aktuelle interessiert und war einer der ersten Reggae-Akteure, der sich für die Belange der Ghettobewohner einsetzte und gar zum zentralen Punkt seiner Songs machte. Provokant und ohne Skrupel, schwenkte er als erster überhaupt öffentlich seine langen Rasta-Locken und machte diese zum festen Bestandteil der Reggae-Kultur.

Genauso vorbehaltlos und ungestüm ging Big Youth auch lyrisch zu Werk. Und frei heraus fetzen die Strophen immer noch aus ihm. Big Youths überfallartiger Sprechgesang, der mal melodiös und mal ekstatisch rüberkommt, hat in keiner Weise unter den vielen Jahren gelitten. Auch zum Staunen der anwesenden Musiker im jamaikanischen Anchor Studios während der Aufnahmen zu diesem neuen Album, der ausschließlich aus neuem Material besteht. Mehr noch setzt er nun seine berüchtigten Schreie und Seufzer gezielter und darum effektvoller ein. In „Educated Fools“ macht er sich über all die (Ein)gebildeten her, die die Welt auf täglicher Basis ruinieren. Ein paar Straßen- und Lebensweisheiten hat Big Youth auch parat in „Wareika Hill“. Genauso wie er in „Those Days“ kurzerhand seine, durch Lebenserfahrung gelernten Lektion, einfach so für alle zugängig preisgibt.

by Samuel Clayton

Und ein Hirngeschädigter

Der Sound des Albums, den sich der Franzose Martin Nathan, bekannt als Brain Damage, ausgedacht hat, ist im gleichen Maße reif und zeitlos, wie Big Youth selbst. Der rustikale Klang der Instrumente, allen voran der Trompeten und Posaunen, aber auch der tiefen Bässe mit virtuosem Klavier und pikanten Gitarrenlicks, knistert und knackst wie ein alter Holzboden. Martin Nathan aka Brain Damage macht dabei seinem Künstlernamen alle Ehre, indem er auf dem Album „Beyond The Blue“ eine luzide, hirnverdrehte Mischung aus Jazz, Reggae, Rocksteady und Dub abliefert. Er lässt seinen neuerfundenen Old-School-New-Style Reggae und seine Koryphäe Big Youth auf diesem Album wie eine jamaikanische Form des französischen Chansons klingen – temperamentvoll und melancholisch, nebulös und ironisch. Es ist eine eigenartige musikalische Reise, die es so vielleicht bald nicht mehr geben wird.

Zvjezdan Markovic

About Zvjezdan Markovic

Immer auf der Suche nach neuen und alten Sounds, hat aber auch seit über 10 Jahren die schlechte Angewohnheit, darüber zu schreiben. (E-Mail zvjezdan[at]irieites.de)