Headcornerstone “Walk On” (Oneness Records)

Headcornerstone
“Walk On”
(Oneness Records – 2021)

Lange hat man von Headcornerstone nichts gehört: Nachdem 2003 und 2005 zwei starke Alben erschienen sind, löste sich die süddeutsche Band bald danach auf und kam erst 2010 für einige Live-Auftritte mit veränderter Zusammensetzung auf die Bühnen zurück. Die Mitglieder verfolgten darauf eigene Wege: Sänger Conscious Fiyah etwa unterstützte Sound System Shows mit seiner charakteristischen Stimme, Bassist Moritz von Korff spielte mit Jahcoustix und Dub Inc. und gründete schließlich Oneness Records, wo dieses neue Album jetzt am 21. Mai 2021 erschienen ist. Vorweg kann man sagen, dass die Qualität durchweg jedes Roots-Herz im One-Drop synchronisieren wird.

Production scene

Headcornerstone und Walk On

Schlagzeuger und Produzent aDUBta  erweitert das Line-Up, wobei der Sound im Vergleich zu den Vorgänger-Alben ordentlich angefettet wird und das Tempo gleichzeitig gedrosselt wird. Das selbstbetitelte Debütalbum und Stand Strong überzeugte überwiegend mit energischen Uptempo-Nummern und Bridgeparts mit DeeJay-Flows und Live-Charakter im Dunk-Dunk-Rhythmus. Die jugendliche Energie der Anfangsjahre wirkte drückend nach vorne, “Walk On” behält dabei seinen Conscious-Lyrics-Anspruch und lässt diese durch eine verfeinerte Komposition, Produktion und Darbietung noch stärker wirken. Der reife Sound zeugt davon, dass alle Beteiligten sich mit Herz und Seele dem Roots Reggae verschrieben haben. Zwölf starke Tunes, überwiegend im One Drop, halten die Qualität durchgängig hoch und den Körper in Bewegung. Musikalisch sind so ziemlich alle Elemente da, die man von modernem Reggae, der sich auf die Vorbilder der 70er Jahre bezieht, erwartet: Süße Harmoniestimmen, Melodica-Melodien, dezente Dub-Effekte und vor allem im Vordergrund: the drums and the bass. Auch die Stimme, Style und Flow von Conscious Fiyah ist im Laufe der Jahre nur im positiven Sinne gereift. Diese flowed vor allem im unteren Register, wobei an dieser Stelle der jamaikanische Roots-Stil verlassen wird und “westliche” Rockeinflüsse zu spüren sind, wenn die Botschaften mit  Growl angeraut präsentiert werden. Die Texte greifen wesentliche Roots-Inhalte auf und bedienen die Kritik an immer noch aktuell beklagenswerten Zuständen mit den zu erwartenden Lösungen aus der Rasta-Philosophie.

Headcornerstone, Walk On und Ich

Ungefähr um die Zeit, als Headcornerstone ihr erstes Album aufgenommen haben dürften, saß ich ein paar Monate an einem bestimmten portugiesischen Strand mit meinem Wohnmobil, war auf der Suche nach dem Selbst und hatte mit Reggae eigentlich nichts am Hut. Gentleman und Seeed starteten etwa zu der Zeit durch und deutsche Reggaeacts wurden zum ersten Mal so was wie Popstars, auch bei mir. Als Reggae hatte ich das damals aber eigentlich nicht wirklich wahr genommen, zu eigenständig war wohl der Sound und zu unerfahren meine musikalischen Ohren. Ich kannte eigentlich nur Marleys “Legend”-Kompilation, die wahrscheinlich ungefähr jeder Mensch auf der Welt, der Ohren hat, kennt. Fand ich natürlich auch absolut genial, wer nicht. Leider gab es in meinem Umfeld aber niemanden, der die weitere Reggaewelt mir geöffnet hätte.

An diesem Strand in Portugal saß ich also und spielte vom Wohner aus allabendlich  Musik über den Strand. Das zieht natürlich Leute an und eine kleine Gruppe junger Portugiesen gesellte sich eines Abends dazu und wir verchillten die Zeit. Irgendwann fragten diese dann: “Hör mal, ist ja alles ganz cool so, aber warum spielst Du eigentlich keinen Reggae?” Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich damit nix am Hut hätte und die wieder darauf: “Morgen bringen wir dir ein Tape mit (ja, diese kleinen Magnetbandkassetten), danach wirst du Reggae lieben!” Gesagt, getan, und natürlich haben sie recht behalten. Zwei Tapes waren es, das eine mit Junior Delahaye auf der einen, Love Joys auf der anderen Seite. Das andere ein Reggae und Dub-Mix von einem Selecta namens Dub The Fat Man. Danach war Reggae nicht mehr aufzuhalten, in meine Welt einzubrechen.

Headcornerstone haben es damals nicht geschafft, meine Aufmerksamkeit zu erregen, dafür war ich wohl noch zu sehr im Reggae-Niemandsland isoliert. Sehr schade aber im Nachhinein, denn es tut einfach gut, I-grade Reggae aus hiesigen Landen zu hören. Interessanterweise wird Roots Reggae im traditionellen Gewand mittlerweile vor allem außerhalb Jamaicas  konserviert, während sich die angesagtesten Künstler von der Insel im Großen und Ganzen  neuen Sounds und Rhythmen zuwenden. Und dieses Album ist so rootsig wie man es erwarten kann, wenn man ehrfurchtsvoll auf die Originale schaut, wie bereits oben beschrieben. Meine persönlichen Anspieltipps sind, neben den üblichen Verdächtigen (die ersten drei Tunes), “Why” in einem herrlichen Rockers-Riddim, “Time” und “Love In Abundance”. Alle Titel auf dem Album sorgen aber für genug Roots-Feeling, dass es für die nächsten Monate reichen dürfte bis der Sommer dann hoffentlich endlich mal kommt und dann auch wieder geht.

So fett und ausgewogen der Mix, Sound, Kompositionen und Worte auch sind: Sie sind eine moderne Verbeugung vor den Originators, die perfekte Musik zu imitieren sucht und dabei ein scheinbar perfektes Ergebnis vorweist. Was soll das denn jetzt bedeuten? Ich will damit sagen, und das gilt nicht nur für Headcornerstone, sondern für die meisten modernen Interpretationen von Roots Reggae: Es fehlt mir persönlich oft das besondere Element, das die High Time unserer Lieblingsmusik ausmacht; der unperfekte Mix, in dem die Drums einfach scheppern, manche Effekte (Testtöne vom Mischpult etwa) viel zu übertrieben laut reingemischt sind, die Sänger/DeeJays das Mikro vor lautstarker Leidenschaft hoffnungslos übersteuern, kurzum: ich wünschte mir moderne Produzenten und Künstler mit einem Quäntchen Wahnsinn wie dem eines Lee Perry, Tubby oder Big Youth. Den Mut zum Experimentieren, zum unperfekten Ergebnis, weniger die Kunst der Imitation perfektionieren zu wollen.
Dieses Gefühl in Portugal, die rauschenden Tapes mit überbordenden Aufnahmen wie “Phoenix City” und “Thief In The Night” prägten jedenfalls meine Vorstellung von Roots Reggae ganz ungemein: Roots Reggae und Musik im Allgemeinen ist die Übertragung von Gefühl, das universal verstanden wird. Und das muss im Moment aufgenommen werden, unkorrigiert und unreflektiert: Statt zu überlegen und genau hinzuhören, ob die Kick im Verhältnis zum Bass zu laut oder leise ist, besser ins Tape so viel reindrehen, bis sich dieses gewisse Gefühl einstellt und dann die Shaker und die Hats nochmal durch einen Phaser hinter die Zwölf knallen. Die Leute, die wir für ihre Ergebnisse verehren, haben für den Effekt in der Dancehall nachts gearbeitet, wenn das Dubplate kurz nach dem Schneiden zum Selecta gebracht wurde, sie haben nicht daran gedacht, wie die Musik nach dem Limiter-Algorithmus von Spotify klingt.

Natürlich ist es unfair, ein fabelhaftes Album von fabelhaften Künstlern wie den hier Besprochenen am Ende so stehen zu lassen, aber vielleicht findet sich ja jemand, der versteht was ich meine und sich inspiriert fühlt. Plattenkritiken müssen schließlich auch kritisieren und die Musik voran bringen. “Walk on” bleibt ein wunderbar warmes, fettes, ausgereiftes Album von Menschen mit viel Herz für die Musik und moderne Ansprüche: Sauber, rauschfrei, gekonnt und durchdacht.

Fabian

 

 

About Fabian

Schreibe, singe, spiele, produziere, höre, schaue, tanze und jetzt kommentiere ich auch Reggae inna Roots-Style mit aktuellem Anspruch.