Ratigan Era, DX und Kid Gringo im Interview: Afro-Dancehall straight outta Kampala

Ratigan Era

Afro-Dancehall straight outta Kampala

Wir sitzen in Makindye, einem Distrikt in Ugandas Hauptstadt Kampala. Makindye, umgangssprachlich als Ugawood bekannt, gilt als Herzstück der ostafrikanischen Filmindustrie, geprägt durch die Trash- und Splatterfilme des Filmemachers Ashraf Ssemwogerere. Nicht nur die Filmszene hat sich hier niedergelassen, sondern auch die junge, aufstrebende, ugandische Musik- und Künstler*Innen-Szene ist hier vertreten. Kid Gringos Atelier ist Kulisse dieses Interviews mit Aussicht auf den Victoriasee. Der damalige DJ von Trettmann hat vor 5 Jahren Deutschland den Rücken gekehrt und Uganda als neue kreative Heimat ausgesucht. Von den Wänden grüßen seine Kunstwerke, die aus dem Riddim Magazin bekannt sind, auf denen er Musiker wie Popcaan, Vybz Kartel oder Dennis Brown & Gregory Isaacs auf einmalige Art porträtiert. Neben seiner Tätigkeit als DJ und Künstler ist er Teil der Spitfire Crew und Ansprechpartner für junge ugandische Musiker*Innen, die er unterstützt und fördert.

Einer dieser jungen Artists ist Ratigan Era – Sally Raymon (23) selbsternannter Dancehall General & Dance Genna. Begleitet wird er von DX, Kabagambe Emmanuel (23), enger Freund Ratigans, Organisator und graue Eminenz in Hintergrund der Spitfire Crew.
Bei dem Lovesong “Nsaba” von Pallaso hat Ratigan Era durch sein Feature auf sich aufmerksam gemacht und einen wichtigen Beitrag zu diesem in Uganda verbreiteten Hit geleistet, der im regen Treiben Kampalas regelmäßig aus Lautsprechern ertönt. Sei es auf dem Motorrad, aus den mobilen Lautsprechern der BodaBoda-Fahrer oder in einem der zahlreichen Nightclubs, der nicht schlafen gehenden, pulsierenden Großstadt, in der das Wochenende ohne Probleme bereits am Mittwoch beginnen kann.

Seit “Nsaba” sind sechs Monate ins Land gezogen, bis Ratigan Era letzte Woche seinen eigenen Song “Up Top” veröffentlichte. Der auf Boasty Records erschienene Track darf als Vorgeschmack auf die anstehende EP verstanden werden. Der Link zu Boasty Records kam ohne Zweifel durch Kid Gringo zustande, der dem neuen Stuttgarter Label damit einen Künstler beschert, der kontinentale Genregrenzen aufhebt. Denn “Up Top” ist eine Mischung aus energiegeladenen Afrobeats und Highlife-Sound, der mit einer melodiösen Trompete in den Bann zieht. Trotzdem ist “Up Top” aber auch Dancehall mit einer eindeutigen Note urbaner Musikkultur direkt aus Kampala. Unterstrichen wird das Ganze durch Ratigans einmalige Stimme – believe it.

Ich werde sehr herzlich empfangen, zur Begrüßung gibt es eine Einführung in angesagte lokale Tunes und in die regionale Bierkultur in Form eines Nile Special aus der Stadt Jinja am Ufer des weißen Nils. Die Jungs sind euphorisch und es herrscht beste Stimmung. Es ist das erste internationale Interview und mit der Hoffnung verbunden, Ratigans Musik und die Spitfire Crew deutschsprachigen Leser*Innen bekannt zu machen.

Ratigan möchtest du uns etwas über dich erzählen. Woher kommst du und was macht Deine Musik aus?

Ratigan Era: Ich mache Dancehall und Afrobeats und komme aus dem Dorf Kawempe in Kampala. Hier kennt mich jeder und ich bin sehr stolz auf meine Gegend. Meine Mutter hat mich hier zur Welt gebracht, mein Vater lebt dort. Kawempe steckt in meiner Musik, genauso wie Jamaika. Der jamaikanische Einfluss in meiner Musik ist groß, da unser Leben hier in Kawempe sehr von jamaikanischer Musik geprägt ist. Vybz Kartel, Busy Signal, Popcaan, Mavado haben mich als kleiner Junge schon begleitetet, wodurch diese Artists einen großen Einfluss auf mich haben. In Kawempe führt kein Weg an Dancehall vorbei, es ist Teil unserer Identität. Nichtsdestotrotz hatte auch kirchliche Musik und Musikerinnen wie Enya einen Einfluss auf mich gehabt.

Durch meine Vielseitigkeit stecken zahlreiche Einflüsse in meiner Musik. Ein bisschen was aus Deutschland, etwas aus den USA. Generell alles was mir gefällt und geeignet ist, versuche ich aufzugreifen. Tonangebend ist aber natürlich der jamaikanische und afrikanische Einfluss. Letzterer wird vor allem durch unsere eigene Dancehall- und Afrobeats-Kultur in Uganda hervorgehoben. Ich würde meine Musik als Afro-Dancehall bezeichnen, mit einer starken ostafrikanischen Note aus Uganda. In Jamaika heißt es in den Lyrics zum Beispiel wine and go down, hier in Uganda wird daraus walan golo, also alleine schon die Sprachen, machen unsere Musik besonders. 60% der Texte in meinen Songs sind in unseren lokalen Sprachen wie z.B. Luganda, 30% sind jamaikanisches Patois und die restlichen 10% sind ein bunter Mix aus Englisch, Spanisch oder auch Deutsch. Ich lasse mich dabei auch von meinem DJ Kid Gringo inspirieren und genauso von meinem Producer DX. Sprachen sind Teil meiner Vielseitigkeit. Ich jongliere mit ihnen– anywhere anytime.

DX: Afro-Dancehall ist für mich ein neuer Dancehall Groove, der aus unseren urbanen Communities heraus entstanden ist und der auf dem Dancehall der Neunziger aus Jamaika basiert, aber gleichzeitig etwas Einzigartiges aus Afrika repräsentiert. Wir wollen unseren eigenen Weg gehen und was Eigenes erschaffen. Unsere eigenen Sprachen und Akzente sind dabei elementarer Bestandteil.

Kid Gringo: Ratigans Style ist unberechenbar und absolut vielseitig. Er überrascht mich immer wieder aufs Neue. Ansonsten sind die ugandische Afrobeats im Vergleich zu Nigeria mehr Rap und Dancehall lastig, der Reggae-Einfluss ist geringer, jedoch bleibt der Beat gradezu hypnotisch. Die Musik bleibt dabei sehr lebhaft und wirkt nicht so minimalistisch, wie man es zur Zeit aus Jamaika kennt. Mir persönlich wird bei der Musik aus Uganda nicht langweilig. Ratigans Vielseitigkeit spiegelt sich auch in seinen Dubplates wieder, da steckt sehr viel Potenzial drin und gerade das Switchen zwischen den Sprachen macht die Sache besonders interessant.

In vergangenen Interviews mit Kid Gringo wird über eine wenig ausgeprägte Dubplate-Kultur in der ostafrikanischen Musikszene berichtet. Es heißt, wenn Kid Gringo eigene Dubplates von ugandischen Künstler*Innen auflegt, verstehen viele Locals die Welt nicht mehr und sind total begeistert. Welche Rolle spielen heute Dubplates für junge Artists und hat sich es etwas verändert?

Ratigan Era: Mittlerweile kennt man das Dubplate-Prinzip bei uns immer mehr. Gringo hat mit seinen Dubplates vor 5 Jahren hier etwas losgetreten, was sich einer immer größeren Beliebtheit erfreut. Das liegt daran, dass er nie müde wird und mehrmals die Woche in Bars und Clubs in Kampala auflegt. Gleichzeitig ist er im Radio sowie TV präsent und verändert somit das Verständnis über Dubs. Für mich selbst war das Thema auch neu, aber ich denke gern an die ersten Dubplate-Sessions zurück. Es war sehr anstrengend, hat uns aber auch immer viel Spaß bereit und dazu beigetragen unser Netzwerk zu erweitern.

DX: Das Dubplate-Konzept eröffnet uns viele neue Wege und Möglichkeiten. Einige adaptieren es mittlerweile und immer mehr Artists sehen darin eine Chance, ihre Popularität zu steigern, wobei das bisher nicht in den Afrobeats-Mainstream in Uganda reicht. Oftmals muss Gringo immer noch einige Beispiel-Dubs vorspielen, wenn er einen Künstler für eine Dubplate gewinnen möchte. Es bleibt also noch ein schwieriges Thema.

Kid Gringo: Dubs halten die Künstler*Innen am Leben, vor allem in einer Zeit, wo durch Covid fast 2 Jahre keine Shows möglich waren. Einige haben gemerkt, dass es eine super Promo-Möglichkeit ist und sie dabei gleichzeitig aktiv geblieben. Die ersten Dubplates für Citylock und Sentinel haben wir für 75 € produziert, das sichert den jeweiligen Künstler*Innen das Überleben für 1-2 Wochen und ist somit eine willkommene Einnahmequelle. Die meistens Artists hier kommen aus sehr einfachen Verhältnissen und jeden Tag beginnt der neue Hustle.

Ratigan Era: Dubplates haben mich während der Pandemie über Wasser gehalten und gleichzeitig meine Produktivität gesteigert. Es war eine frustrierende Zeit, da alle Shows abgesagt wurden, zudem stand das ganze Land still. Teilweise fuhren sogar die Boda Bodas (Motoradtaxis – Kampalas Fortbewegungsmittel Nr.1) nicht mehr und es war für alle schwieriger, das tägliche Einkommen zu sichern. Wir hätten viele Auftrittsmöglichkeiten gehabt u.a. auch in Deutschland, leider gab es fast zwei Jahren keine Shows. Jetzt stehen aber viele Projekte an. Bald wird meine neue EP auf Boasty Records veröffentlicht und zudem planen wir Auftritte auf dem Rototom und dem Keep it Real Jam.

Ratigan Era

Erzählt uns über eure Zusammenarbeit mit Kid Gringo. Wie habt Ihr euch kennengelernt?

Ratigan Era: Kid Gringo – el Chapo el Chapo, el baddest master straight outta Germany to Uganda. In 2017 tauchte Gringo in Uganda auf. In dieser Zeit war ich sehr orientierungslos und hatte meine alte Crew Gamepack verlassen. Ich traf Gringo auf einer Veranstaltung in einer Bar, wir kamen ins Gespräch und er lud mich zu einer Dubplate Session bei sich ein. In dieser Zeit wusste ich noch nicht, was Dubplates sind. Da ich nichts zu verlieren hatte, trafen wir uns und die Geschichte nahm ihren Lauf. Gringo is my trainer, baddest Dubplate Master in Uganda and of course also a friend. He is taking care of us here and helps out in many situations. Es macht immer Spaß mit Gringo in Clubs, der TV- oder Radiostation unterwegs zu sein. Gringo zieht die Blicke auf sich! Alle wollen wissen wer der verrückte, tätowierte Muzungo (Bezeichnung für weiße Menschen in Uganda) ist, der die baddesten Tunes spielt. Nuff respect to Kid Gringo.

DX: Gringo ist ein wichtiger Pushfaktor für uns. Er motiviert uns, kreiert viele Verbindungen und unterstützt uns, unseren Afro-Dancehall in die Welt zu tragen.

Spitfire ist in euren Songs und im Viertel sehr präsent. Möchtet Ihr etwas über Spitfire erzählen?

DX: Give thanks and big up Spitfrie Crew – Spitfire ist ein Zusammenschluss von jungen Menschen, die vorwiegend hier in der Gegend um Makindye leben. Viele Jungs sind von der Straße und Spitfire ist Ihre Familie. Zu Spitfire zählen bestimmt 2000 Menschen, obwohl wir auch schon einige verloren haben, kürzlich gerade unseren Bruder Ryan – rest in peace Ryan. Einige sitzen aber auch im Gefängnis. Das Leben in Uganda ist hart und gibt Menschen von der Straße keine Chance. Stattdessen ist deine Zukunft bereits vorbestimmt – no way out. Mit Spitfire geben wir einander Zuversicht. Ratigan ist unser bekanntester Artist, auf den wir sehr stolz sind. Kid Gringo ist unser Supporter, der uns Visionen gibt, da er an uns glaubt und uns unterstützt. Bei Spitfire kann jeder seine Ideen einbringen und etwas für die Community tun. Wir unterstützen uns und passen auf uns auf. Jeder der was für die Gemeinschaft leistet, kann Teil von Spitfire werden. Wir träumen davon, die Spitfire Family weiter wachsen zu lassen und neue Spitfire Fans in Deutschland zu gewinnen.

Kid Gringo: DX ist immer sehr bescheiden. Er ist ebenfalls eine sehr wichtige Person für Spitfire und für mich, da bei ihm viele Fäden zusammenlaufen. Er regelt viele Sachen im Hintergrund und beschwichtigt Situationen, bevor sie zu Problemen werden. Ohne DX hätte ich hier vieles nicht so realisieren können, er ist eine große Unterstützung und hat immer einen Überblick über das Geschehen.

Ratigan Era: Spitfire ist auch ein Aufruf, ans Mikrofon zu treten und wie ein Drache Feuer zu spucken. Dieses Feuer soll jedoch nichts niederbrennen, sondern transferiert metaphorisch Emotionen und Kraft. Spitfire steht für Freundschaft und Zusammenhalt – I love my friends Gringo and DX and the rest of the Spitfire Crew – real family!

Was gibt es bei Euch neues was habt ihr für Pläne?

Ratigan Era: Diesen Monat ist bereits Ratigans neuer Song “Up Top” auf Boasty Records erschienen. Den Link hat Gringo hergestellt und wir freuen uns im Sommer die Jungs von der Keep it Real-Crew persönlich kennenzulernen.

DX: Ich möchte gern etwas von der Welt kennenlernen und Uganda das erste Mal in meinem Leben verlassen. Das durch Musik möglich zu machen, ist ein Traum.

Kid Gringo: Wir haben diesen Sommer viel vor! Zum einen ist eine EP in Arbeit sowie die dazugehörigen Videos und zum anderen die Anfragen für Festivals, wie das Rototom in Spanien und das Keep it Real Jam in Balingen. Aktuell ist die größte Herausforderung, die Beschaffung der Pässe und Visa. Einen Reisepass kann man als Ugander*In nur mit einer Geburtsurkunde und mit einem Empfehlungsschreiben eines staatlichen Beamten beantragen. Wenn man aus dem Ghetto kommt, hat man in der Regel weder eine Geburtsurkunde, noch die Möglichkeit ein Empfehlungsschreiben zu bekommen, geschweige denn das nötige Kleingeld, um den Beamten für diesen handgeschriebene Zettel zu bezahlen, da dieser seinen Stift erst in die Hand nimmt, wenn es sich für ihn lohnt. Den Visatermin an der deutschen Botschaft kann man erst beantragen, sobald die Pässe vorliegen. Die Kosten für die Visaanträge fallen natürlich im Voraus an und eine Sicherheit auf einen positiven Ausgang gibt es nicht. Diese finanziellen und bürokratischen Hürden sind für die meisten Menschen hier unmöglich zu meistern. Von daher hoffe ich sehr, dass wir das gemeinsam hinkriegen und Ratigan diesen Sommer endlich auf europäischen Bühne stehen wird.

Interview: Marius

Boasty Records

Hier bei IrieItes.de gibt es noch ein Interview mit Kid Gringo von Ende 2019.

About Marius

Subculture loving & grateful world citizen from Frankfurt. Grown up in the Eintracht Frankfurt football scene alongside Soundbwoys Destiny and antifascist streetpunk bands like the Stage Bottles. Working many years in Cuba, Panama, Ecuador and Colombia. Now with new tasks in the Caribbean and the Rhineland.