Millie
"Time
Will Tell"
(Trojan/Sanctuary/Rough
Trade - 2004)
Time Will Tell
ist das, was der Engländer ein ‚quaint timepiece' nennt. Es ist
ein Album, das der Zeit seiner Entstehung mehr als allem anderen verhaftet
ist und das heute beim Hören eher Unverständnis hervorruft.
Millie (eigentlich Millicent Small) wurde 1948 auf Jamaika geboren.
In Kingston nahm die Sängerin, die sich zuvor im Kirchenchor hervorgetan
hatte, ab 1963 Duette mit Roy Panton und Jackie Edwards für Coxsonne
Dodd auf (alle 15 Stücke aus dieser Zeit sind auf dieser CD als
Bonustracks enthalten). 1964 erkannte Island-Boss Chris Blackwell das
Potential der 15jährigen und holte sie zu einer Aufnahme-Session
nach London, in der unter der Ägide von Ernest Ranglin als Arrangeur
das Remake eines obskuren US-Hits von 1957 mit Titel ‚My Boy Lollipop'
im Ska-Gewand entstand. Blackwell schloss für die Single einen
Lizenzdeal mit Fontana, und ‚My Boy Lollipop' wurde zum ersten Ska-Charthit
außerhalb Jamaikas - die Single verkaufte sich weltweit über
sieben Millionen Mal. Millie (aber auch Ranglin und Blackwell) kommt
daher der Verdienst zu, Ska in den Gehörgängen der Europäer
und Amerikaner verankert zu haben und somit den Weg für Reggae
und die unvergleichliche Karriere von Bob Marley geebnet zu haben. Millie
aber konnte den Anfangserfolg nicht wiederholen und verlegte sich wieder
auf die Balladen-Duette, die sich bei den in England lebenden Jamaikanern
noch immer großer Beliebtheit erfreuten (heute aber eher an die
Every Brothers denn an die frühen Wailers erinnern).
Dann passierte es, dass zum Ende der 60s Reggae ins Bewusstsein der
Europäer drang; nicht zuletzt durch den Erfolg der Singles ‚Return
Of Django' der Upsetters und ‚The Isrealites' von Desmond Dekker und
anderen beachtlichen Neuerscheinungen auf Trojan Records, die sich damals
bei der britischen Jugend großer Beliebtheit erfreuten. Im Zuge
dieses Erfolgs erinnerte man sich auch an Millie und verfrachtete sie
umgehend in ein Studio. Mit der Jamaika-stämmigen Session-Band
The Pyramids nahm sie 13 Songs auf, von denen die meisten ihr damaliger
Manager Eddie Wolfram schrieb. Das daraus resultierende Album Time Will
Tell schaffte es aber nicht, sich in den UK-Charts zu platzieren. Darüber
hinaus fiel Millie mit Nacktfotos in einem Hochglanz-Magazin - angeblich
gemacht, um das Album zu promoten - bei ihrem britisch-jamaikanischen
Publikum in Ungnade. Auch das Cover des Albums, auf dem die Sängerin
halbnackt auf einer überdimensionalen, blau angemalten Banane reitet,
ist nicht gerade das, was man geschmackvoll nennen würde. Aber
das Album hätte auch so keine Chance gehabt: Schon der Opening
Track mit seinen barock anmutenden Bläsern ist ein eindeutiges
Zugeständnis an den Progressivrock-Zeitgeist und wirkt auf Reggae-Fans
eher abstoßend. Track drei ist zumindest ein historisch interessantes
Stück: ‚Mayfair' war die Single des Albums und nicht, wie auf dem
Cover angegeben, eine Wolfram-Komposition, sondern ein Stück des
Singer-Songwriters Nick Drake, dessen kurzes Leben, ungeklärte
Todesursache sowie drei Alben voller hochintensiver melancholischer
Songs ihn in den letzten Jahren zu einem Kultstar werden ließen.
Millies Version von ‚Mayfair' war die einzige Drake-Coverversion zu
dessen Lebzeiten. Das Gros der Tracks ist nach einem immer gleichen
Muster gestrickt: Millie singt zwei Drittel eines Songs in ihrer normalen
Singstimme, bevor sie gegen Ende in den Overdrive schaltet und die kieksige,
markdurchdringende Stimme der 16jährigen von ‚My Boy Lollipop'
auspackt. Höhepunkte im Sinn einer Reggae-Hörweise sind die
beiden Jimmy Cliff-Covers ‚Time Will Tell' und ‚Honey Hush'. Stilistische
Ausfälle gibt es hier zuhauf; der schrägste von allen ist
‚Enoch Power', ein Song über einen rassistischen Politiker, an
dessen Anfang die Bläser mehrstimmig aber ungemein schräg
das Deutschlandlied intonieren. Brrrrr, da schüttelt's einen. Und
doch hat dieses Album eine merkwürdige Faszination, der zumindest
ich mich nur schwer entziehen kann. Fazit: Wer auf klassischen Ska,
Rocksteady oder Reggae steht, sollte einen großen Bogen um dieses
Album machen, denn mit Reggae hat diese Musik außer dem Afterbeat
kaum etwas gemein. Wer sich allerdings für die Geschichte der Popmusik
und deren abseitige Fehlentwicklung interessiert, für den ist diese
naiv-charmante Platte ein absolutes Kleinod.
Ralf Bei der Kellen