AZZDDINE
with BILL LASWELL
"Massafat"
(Barraka/Broken Silence - 2004)
Marokkanische Musik
in Dub ist, wie auf 'massafat', durchaus keine selbstverständliche
Angelegenheit, ja vielleicht sogar ein Novum.
Diese Veröffentlichung ist aber in vieler Hinsicht - nicht nur,
dass sie an Dubs reichhaltiger als eine MASSIVE ATTACK-Produktion ist
- ein musikalisches Phänomen: Sie ist die vielleicht bisher brillanteste
Verbindung marokkanischer mit international zeitgenössischer Popmusik.
Nicht zuletzt die Wahrwerdung eines Traums, den junge Musiker weltweit
hegen: Die Einsendung eines Tapes an eine passende Plattenfirma und
der Erfolg des Signings.
Eine sympathische
Geschichte: "Auch wenn die Tonqualität wohl die schlechteste
war, die wir je gehört hatten, konnte man eine von weitem erkennbare
Schönheit und Dynamik wahrnehmen. Das Tape war von AZZDDINE OUHNINE,
Komponist und Oud-Spieler, blind seit seiner Kindheit, direkt aus Salé-Rabat,
Hauptstadt des Königreichs Marokko. Nach zwei angehörten Songs
war die Entscheidung gefallen. Wir mussten was zusammen realisieren."
(Labelinfo)
Zunächst war
ein ganzes Orchester (15 Musiker) mit der Einspielung der Aufnahmen
verständigt worden. Die Crew zeigte sich hochmotiviert, aber ohne
die gewünschten technischen Standards abzusichern schafften es
lediglich zwei (Tracks 6+12) der Aufnahmen auf die Produktion - sie
blieben auch die traditionell gehaltendsten des Albums. Die restlichen
Songs wurden mit einen fünfköpfigen Team eingespielt, deren
Ergebnis sehr zufrieden stellte, doch eine bassige Erdung der Aufnahmen
fehlte noch - und eine synthetische sollte es ob der Tiefe der Songs
nicht sein. So kam man auf die fast schon verwegene Idee, BILL LASWELL
anzufragen, ob er bei Übersendung von zehn Tracks zu vielleicht
zweien kräftig groovende Basslines einspielen könne. Bereits
eine Woche später übersendete Laswell acht der zehn Songs
bassunterlegt zurück: Mit einer gleichermaßen verblüffenden
Selbstverständlichkeit im Umgang mit arabischer Musik wie seiner
gewohnten Präzision. Denn hier stimmt jede Bassnote, jede Betonung,
als habe er sich gerade gewünscht, eine passende Produktion aus
der arabischen Welt zu unterstützen. Seine Begeisterung für
die Aufnahmen ist seinem Spiel anzumerken, sie geben ihnen exakt die
Kraft, die sich die Producer des Albums gewünscht haben.
Der Opener beginnt
eher traditionell, zieht aber mit prima aufgelegten Streichern kräftig
an. Nach der Hälfte schweben bereits die ersten Dubs ein, als sei
Dub-Music in der arabischen Welt selbstverständlich. 'Britou' kommt
mit massiv Rap und Vocoder in französisch, eine kesse Variante
von Erfahrungen arabischstämmiger Jugendlicher in Frankreich, auch
ein textliches Wechselspiel des Nachwuchsrappers BOUALEM mit AZZDDINE.
Das wie eine Wüstenvision betont elegische, wunderbar von YOUSSEF
EL MAJJAD besungene 'ana ou enta' überschreitet ähnliche europäisch
produzierte Chill Out-Tracks an Authentizität und Kraft um ein
gutes Maß. 'Takassim' kommt instrumental und erinnert mich sehr
an kaukasische Folklore sowie an die Musik des filmischen Meisterwerks
'Vor dem Regen'. Marokkanisch durchdrungener und folkloristischer sind
die nun folgenden Stücke 5-8, das neunte 'koun shaqiqi' ist völlig
spacey abgefahren mit wie eingesampelt wirkenden, weiblichen Sirenenstimmen,
das folgende 'goa rozali' eine freche Aufnahme des Themas eines KLF-Erfolgs,
doch 'massafat' ist noch lange nicht zu Ende.
Alle Kompositionen
sind von AZZDDINE OUHNINE, in Zusammenarbeit mit PAT JABBAR, wenns um
die Modernisierung ging. Ein solch wunderbares Werk hat sich AZZDDINE
ob der Einspielung seiner kraftvollen Songs für einen Tonträger
wohl kaum vorgestellt.
Hier haben sich raffiniert Kräfte zu einenm begnadeten Oud-Spieler
wie Sänger gefunden, die wundervoll ein Album zwischen marokkanischen
Traditionals und Authentizität, arabischer Popmusik voller erotischer
Anspielungen und topaktuellen westlichen Produktions- und Musikstandards
eingespielt haben.
Ich halte - ich lasse mich gerne belehren - 'massafat' für die
bislang modernste in einem moslemischen Land eingespielte Musikproduktion
aus der Sicht eines Dub-Fans.
Bernhard Groha