Wenn wir Journalisten mit neuer Musik bemustert werden, wird uns gerne ein PDF voller Zahlen übermittelt:
- YouTube-Kanal-Abonnenten der Band,
- Facebook-“Fans” (gemeint sind eigentlich “Likes” zur Hauptseite),
- Twitter-Follower,
- Soundcloud-Account-Abonnenten,
- Abspielzahlen auf dem Streaming-Dienst Spotify.
Mich stört eine solche Auflistung, wenn sie mal eine bestimmte Zahlenschranke überschritten hat. Mich setzt sie unter Druck. Ich soll mich mit etwas befassen, weil andere es bereits toll finden. “Viele” können sich nicht täuschen. Und “fast” jeder Musikhörer soll ja heute angeblich einen Account in jeder dieser Plattformen haben, sie permanent nutzen und alle seine Privatvorlieben dort fleißig kundtun. Mir hingegen kommt immer wieder der Gedanke, wo denn die Newcomer-Förderung ihren Raum findet.
Nicht jeder Mensch, der Musik macht, ist fotogen und telegen, um sich auf Instagram ständig vor der Kamera zu zeigen. Und nicht jeder hat das Budget für hochwertig designte Cover-Artworks, also die Bilder auf Vorder- und Rückseite einer CD/LP, zugleich das “Thumbnail”-Bild bei Download-Portalen.
Ein Promoter erläuterte vor kurzem, er biete in einem bestimmten LogIn-Bereich Presseleuten Zugang zu einer Auswahl von Neuerscheinungen. Diese könne man dort downloaden und der gewillte Artist müsse dafür eine Gebühr zahlen. Wenn jemand nicht bereit sei, diese Gebühr zu zahlen, lasse das darauf schließen, dass dessen Produktion sicher auch gar nicht gut genug sei, um im Radio gespielt zu werden oder Radio-DJs angeboten zu werden.
Schluck!
Eine (relativ kleine) Plattenfirma erzählt aktuell diese Woche in einer Pressemitteilung an die Presseleute, ein neues Album werde “MfiT” sein und schreibt in Klammern dahinter “Mastered for iTunes”. Da ich die Firma mit dem Apfel bis zum heutigen Tage gekonnt boykottiere, kann ich anscheinend nicht mitreden. Mich persönlich würde eine Presse-Info mehr beeindrucken, die ich die Chance habe zu verstehen und in die wenig Geld gesteckt wurde, als irgendein fragwürdiger Technologie-Fachbegriff. Möglicherweise vergibt die Apfelfirma für das Einhalten bestimmter klanglicher oder technischer Vorgaben eine Art Zertifikat. Weiter heißt es dann in dem Text der Plattenfirma, dass wir “in a global war” lebten, der jeden betreffe. “Distracted by gossip and vanity” seien wir und verstünden nicht, dass uns eine Elite einen Krieg aller gegen alle schmackhaft machen wolle.
???!!
Entschuldigung, aber wer sind denn die großen Firmen, die “Gossip and vanity” verbreiten? Sind es das selten in unseren Breitengraden erwähnte Shazam, mit dem man so bequem Songs unterwegs entschlüsseln kann und das insofern Information statt Desinformation, Fakten statt “Gossip and vanity” bietet? Ist es Deezer mit seinem großen Songarchiv, das man als Datenbank, als Anregung, zum Entdecken der Veröffentlichungen großer wie kleinster Labels nutzen kann? Ist es Mixcloud, wo DJ(ane)s ihre Sets, Sendungen oder Mixtapes hochladen? Oder Bandcamp mit seinen vielfältigen Dateiformaten von Flac bis Wave, bereitgestellt von Künstler/innen und Labels selbst?
Oder ist es nicht gerade die Firma mit dem Apfel als Symbol? Ist es nicht eher die Datenkrake, die das Prinzip der “Likes” erfand, die alle Lebensbereiche vereinnahmen will vom Politischen bis zu dem, was wir essen, von unseren Haustieren bis hin zu den Filmen, die wir mögen? Die unsere Fotos zu ihrem Eigentum erklärt. Die sich jahrelang wehrte, einen Dislike-Button einzuführen. Wo man nur dabei war, wenn man für alles war. Die jetzt einen riesigen Datenmissbrauchs-Skandal am Hals hat. Oder ist es der Kurznachrichtendienst, für den meine Gedanken leider zu lang sind?
Wer verbreitet denn Gossip und Vanity? Eventuell genau die Firmen, die von dieser Plattenfirma hofiert und als Qualitäts-Messinstrumente neuer Musik genannt werden?
Nein, relevant ist doch nicht, wer viele Anhänger nach sich zieht. Denn viele haben viele Anhänger. Der Tag hat aber weiterhin immer nur 24 Stunden. Je mehr Accounts es gibt, auf denen jemand einen Like, ein teils schon automatisch damit ausgelöstes Abo für die Zukunft hinterlässt und die Klickzahlen hochtreibt – desto inflationärer wird das Ganze. Desto kürzer die Verweildauer pro Seite. Kann man austricksen, wenn man hunderte Seiten gleichzeitig am Browser öffnet. Aber dazu bräuchten wir schnellere Internet-Netze und zuverlässigere Betriebssysteme mit größeren Arbeitsspeichern.
Mal zur Qualität: Je mehr Bands und Filme und Produkte und Reiseländer und Marken und Personen und “Freunde” ich abonniere, je mehr Gruppen ich beitrete, deren Geschehen ich verfolge oder sogar kommentiere, je mehr ich retweete und je mehr ich mit einem Herzchen oder Daumen versehe -> desto weniger intensiv die Wahrnehmung. Desto gesplitteter und oberflächlicher die Aufmerksamkeit.
Die Firmen, die meine Daten auswerten, können mich immer genauer eingrenzen. Sie können zusammensetzen, was mir wichtig ist, was weniger wichtig. Sie können anhand von Algorithmen vorhersagen, was ich eventuell gerne als nächstes hören oder lesen möchte. Was andere gehört oder gelesen haben, die ähnliche Geschmacks- und Interessensstrickmuster haben wie ich selbst. Diese großen Firmen, die “Big Data”-Collectors – sie gewinnen!
Doch der einzelne Artist auf Soundcloud, den ich abonniert habe abgesehen von noch weiteren 240 Bands und 63 Fans und 12 Radiomoderatoren, die ich vielleicht abonniert habe? Den werde ich kaum gleichzeitig mit all den anderen Materialien hören können, die ständig neu hinzukommen. Eventuell kommt er bei mir als Abonnent niemals an. Weil mir, bevor ich zu ihm per Automat-Steuerung käme, zig andere Ablenkungen im Weg habe, viele andere Vorschläge, andere Songs in der Never-ending Playlist.
Dummerweise nur scheinen die Bands besonders leicht weiterzukommen im Wettbewerb, die schon viel mit sozialen Netzwerken gearbeitet haben und sich schon viele Clicks, viel “Traffic” erworben haben.
Nun mal meine Frage: Wieso zählen im digitalen Vermarktungsbereich, die Basismeinungen und sehr freie Auswahl fördern könnten, Klickzahlen als Qualitätsmerkmal per se so viel?
Weshalb werden alle Dinge, die wir online tun, so akribisch getrackt und als Argumente der Plattenindustrie so hoch bewertet oder auch überbewertet? Ein Abspielklick heißt mitnichten, dass einem Internet User etwas gefällt. Möglicherweise stoppt sie/er ein YouTube-Video nach wenigen Sekunden gelangweilt. Dass ihr/ihm das Video vorgeschlagen wurde, ist auf Algorithmen und Push-Mechanismen der Industrie selbst zurückzuführen.
“Likes”, also “Gefällt mir”-Angaben sind nicht “Fans”. “Fan” zu sein hat eine umfassendere Dimension. Ich beispielsweise bin Fan von vielem, ohne das im Gesichtsbuch zu verfolgen. Denn das, wovon ich “Fan” bin, daran muss mich ein soziales Netzwerk gar nicht erinnern. Ich gehe von mir aus auf die Suche nach Tour-Terminen und Statusmeldungen und neuen Bildern. Dazu brauche ich nichts abonnieren. Abonnieren dient sicher der Bequemlichkeit, und dennoch will ich vielleicht nicht, dass meine “Follower” und “Friends” in jedem Falle wissen, wofür ich mich interessiere.
Immer häufiger schlage ich die berühmten “Einladungen” aus, bei denen jemand möchte, dass man sich für eine Veranstaltung “interessiert” und das bekundet, oder bei denen man eine Seite mit “Gefällt mir” supporten soll. Über diese zahllosen Seiten verliere ich längst den Überblick und ein Lesen der Inhalte findet gerade bei den Dingen, die ich mit Likes markiert habe, schon überhaupt nicht mehr statt.
Die einzige mehrmals im Jahr erscheinende deutsche Reggae-Zeitschrift in gedruckter Form hat die Zahl ihrer Ausgaben anno 2016 auf vier statt sechs im Jahr reduziert. Ich hoffe, dass der Digital-Wahn bald seinen Zenit überschritten hat. Und dass wir danach auch wieder gerne etwas in die Hand nehmen dürfen.
Dass wir nicht durch Push-Up-Meldungen genervt und durch “Anderen gefiel auch XYZ”-Empfehlungen andauernd das Gefühl bekommen, etwas zu verpassen. Ständig müssen wir schnell sein, weil wir nie wissen, wann ein Blog-Artikel, eine Diskussion unter einer Status-Meldung, ein Post, ein Tweet, eine legale Download-Quelle usw. gelöscht werden oder durch Umbenennungen virtuelle Beiträge unauffindbar werden, Links im Buchstaben 404 münden. Nein, ich möchte gerne eine Zeitschrift ins Regal stellen und sie dann lesen, wann ich dafür aufnahmefähig bin, und sie zuklappen, wenn mein Gehirn keine neuen Reize mehr aufnehmen, filtern und scannen will.
Philipp Kause
Hi Philipp,
meines Erachtens wirfst du zwei Dinge zusammen, die zwar eine gemeinsame Schnittmenge haben, die aber nicht zwingend kausal (badum-tsssss :D) zusammenhängen:
* Die Informationsflut im Netz
* Die Quantifizierung von “Bekanntheit” und “Beliebtheit” die, wie du richtig schreibst, nicht zwingend identisch sind
Zur Informationsflut als solcher habe ich mal einen recht langen Artikel bei den Blogrebellen geschrieben: https://www.blogrebellen.de/2015/10/05/nicht-einfach-aber-moeglich-so-bekommst-du-die-informationsflut-im-netz-unter-kontrolle/
Die Schnittmenge, die ich sehe, ist – wie du richtig schreibst:
(Zeit pro Künstler) = (Verfügbare Zeit) / (Menge der Künstler).
Die Menge der Künstler ist immer größer als deine verfügbare Zeit. Daraus ergibt sich direkt, dass du selektieren musst. Der Gedanke hinter solchen Quantifizierungsmechanismen ist also, dich dazu zu ermutigen deine Zeit lieber mit X (Eine Milliarde LIKES!!!!) als mit Y (vielleicht gar nicht bei Facebook?) zu verbringen. Das ist soweit erstmal nachvollziehbar. Ich halte nur diese Werbestrategie nicht für die primäre Ursache von Informationsflut, sondern vielmehr für eine Folge von Informationsflut.
Die relevante Frage ist dann aber: Sprechen diese Zahlen auch für Qualität. Auch das beantwortest du korrekt mit “Nein”. Aber es macht das ganze für die Business-Seite halt messbar.
Diese (vermeintlich notwendige) Messbarkeit von Dingen wiederum halte ich für das eigentliche Krebsgeschwür und trifft nicht nur auf die Musikindustrie zu, sondern erfasst nahezu alle Bereiche der Gesellschaft. Ich halte das für eine Fehlentwicklung, die aber im Rahmen dieses kapitalistischen Wachstums- und Umsatzgetriebenen Systems unausweichlich zu sein scheint. Wenn die Prämisse schon falsch ist, ist das Resultat folgerichtig auch falsch.
Siehst du denn alternative Ansätze, Aufmerksamkeitverteilung zu steuern? Muss man sie überhaupt steuern? Als Künstler? Als Label?
Was wir als… ich verwende jetzt einfach mal das Wort… Journalisten machen ist ja im Grunde auch eine Selektion. Und um uns diese Selektion zu vereinfachen, werden halt solche Zahlen benützt. Mich interessiert das überhaupt nicht. Mich interessiert die musikalische Qualität und wie mich die Musik mitnimmt/berührt. Das sind meine Gradmesser und damit bin ich bis dato sehr gut gefahren.
In der Tat ist es gar so, dass ich z.B. Promo-Mails von VP-Records oder größeren Labels grundsätzlich ignoriere. Nicht weil ich denke da wäre nie was dabei… eher weil die Erfahrung zeigt, dass das Verhältnis von (für mich persönlich) gut zu schlecht auf den großen Labels nicht stimmt. Wie gesagt, für mich ganz persönlich.
Beste Grüße
Thomas
Das ganze Schielen nach “Likes” oder “gesehenen Posts” (z.B. bei Facebook) ist eine Sache für sich. Da kann man mitmachen und es mag ja vielleicht auch begeistern – unterm Strich wird in Sachen Qualität allerdings nichts ausgesagt. Qualität bemisst sich an anderen Faktoren.
Dennoch: es ist schwierig, als Label Aufmerksamkeit zu bekommen. Für die ganz großen Player weniger, weil sie ja auch andere Mittel und Möglichkeiten haben. Für die kleineren, vielleicht ja auch mit mehr Herzblut engagierteren, Strategen bieten allerdings gerade die Plattformen wie Facebook und Instagram eine geeignete Möglichkeit, auf sich und die eigenen Veröffentlichungen aufmerksam zu machen. Ohne Budgets.
Das scheint die Zeit einfach so vorzugeben. Digitalisierung ist für viele Menschen alles. Und damit wird auch vieles schnelllebiger. Daumen hoch – und gut ist.
Oder anders: “Ich kann doch alles auf Spotify so fein nebenbei hören, warum also irgendetwas wirklich besitzen und kaufen?”. Das schafft Platz, weil kein Raum (außer dem Computer) mehr anfällt. Und warum auf Musik mehr als 30 Sekunden bis maximal vielleicht zwei Minuten einlassen. Der nächste Tune kommt bestimmt. Und danach andere. Eine fahrige Gesellschaft ist entstanden. Und genau darauf schießen sich auch die Promo-Agenturen ein. Schnell mal einen Daumen hoch, ein Herz, selten mal einen Kommentar. Abhaken und gut ist! Das ist einerseits bedauerlich – andererseits entwickelt sich ja auch gerade eine kleine Gegenbewegung.
“eine Fehlentwicklung, die aber im Rahmen dieses kapitalistischen Wachstums- und Umsatzgetriebenen Systems unausweichlich zu sein scheint. Wenn die Prämisse schon falsch ist, ist das Resultat folgerichtig auch falsch.”
->> Ja, und das kapitalistische System beruht ja auf der Wahlfreiheit, der Konkurrenz, dem “American Dream”-Versprechen. Jeder kann es schaffen! Jeder kann auch mit niedrigen Start-Voraussetzungen hohe Ziele erreichen!
–>>> Dieses Modell wird aber immer mehr unterlaufen. Ein schönes, aber eigentlich gruseliges Beispiel ist der VW-“Skandal”. Der ist nicht nur ein Dieselskandal. Sondern er handelt auch von Preisabsprachen, die VW, Audi, Mercedes, Porsche und BMW beim Einkauf von Stahl getroffen haben sollen. Das ist verdeckte Kartellbildung.
Und, es tut mir Leid, dass ich das wirklich so empfinde: Die Art und Weise, wie gerade über Reggae berichtet wird (ich habe da selbst noch die Newcomer-Brille auf, weil ich in dem Genre recht neu bin), erinnert mich auch an Kartellbildung.
Mit Kartellbildung wird aber das Konkurrenzprinzip ausgeschaltet. Verbraucher, Interessierte, Konsumenten, Fans, User haben keine Transparenz und keinen Überblick über die Ursachen, warum ihnen bestimmte Dinge besonders oft oder zum Preis XY präsentiert werden.
Mir tut es im Musikbereich Leid um all diejenigen Artists, die in diesem Getriebe untergehen. Genauso wie es mir im Autobereich aus Sicht z.B. von Peugeot oder Volvo nicht gefällt, dass sie im EU-Binnenmarkt wohl über Jahre eine starke Regelversetzung zu ihren Lasten hinnehmen mussten.
Warum ich den Artikel jetzt schreibe:
Vergangene Woche wurden zwei interessante Details publik:
1.) Das Gesichtsbuch platziert ja sein weißes “f” auf blauem Untergrund auf diversen Seiten, wo es als Tool eingebunden ist. Ich denke, du weißt, was ich meine – vielleicht hast du den englischen Fachbegriff dafür gerade parat?
Wann immer wir eine Seite besuchen, auf der das enthalten ist, so gab FB gegenüber dem Bundesjustizministerium zu, werden wir getrackt – und die Daten über den Seitenbesuch (ohne Account oder ohne geöffneten Account) sind für FB zugänglich.
Das finde ich eine Sauerei, und das ist eben so intransparent, dass es auch nichts mehr mit Kapitalismus in seiner “fairen” Form zu tun hat. Es kann nicht jeder in einem solchen System seinen “American Dream” verfolgen, weil das Ausspähmethoden sind, die wir eher mit der vom Kapitalismus geschmähten Kultur der Honeckers und Ceaucescus in Verbindung bringen.
Und dort wussten die Leute vielleicht teils noch etwas besser Bescheid, wann sie abgelauscht wurden.
Ich muss hier kurz die Anekdote von Harry Holzhacker erzählen. Unter diesem Pseudonym habe ich mich testhalber 2010 auf FB erstmals angemeldet. Sofort bekam ich unter meinem echten Namen an eine Mail-Adresse, die ich nie hinterlegt hatte, Post von FB. Daraufhin habe ich den Account sofort gelöscht. Es war eben nur diese E-Mail-Adresse in dem Browser auch schon einmal benutzt worden. Das ist dann schon äußerst zweifelhaft. Gerade wenn man bedenkt, wie in Büros mit Flexi-Arbeitsplatz viele Personen ein und denselben Rechner mit ein und demselben Browser innerhalb von ein, zwei Tagen benutzen. Datenschutz adieu!
2.) FB bietet gerade im Musikbereich Verknüpfungen zu vielerlei Apps an. Die Datenschutz-Einstellungen zu setzen, wenn von der App -> zu FB verlinkt wird oder umgekehrt von FB -> zu einer (scheinbar externen) App bedeutet als User wahnsinnig viel Zeit zu investieren, und selbst dann noch daneben zu klicken. Und, wie Karsten sagt, Zeit hat ja da kaum ein User.
3.) Ein dritter Punkt betrifft Planwirtschaft – am Bsp. einer früheren Arbeitsstelle illustriert, die ich bei einem großen Textilfabrikanten in der Reklamationsannahme hatte. Das Unternehmen ist für seine Weigerung, Betriebsräte zuzulassen, in Deutschland regelmäßig in der Presse, zuletzt wegen eines Kapuzenpullis mit rassistischem Slogan in den Schlagzeilen gewesen. Dort habe ich einmal 90 Minuten meiner Arbeitszeit mit einem T-Shirt im Wert von 14,99 Euro verbracht, das – es waren betriebliche Richtlinien und Routinen zu beachten – von der Kundin zur Begutachtung eingeschickt hatte und das vom deutschen Lager auf Unternehmenskosten nach Schweden geschickt wurde. Es wurde festgestellt, dass die Reklamation unzulässig sei. Auf dem Rücktransport (erneut: Porto musste die Firma zahlen) ging es verloren. Man hat dann Arbeitszeit, Porto und den nun zu ersetzenden Wert des T-Shirts verloren. Außerdem verlor man eine Kundin, die nun denkbar unzufrieden war.
Richtlinien und Routinen…. Um Umsatz geht es dabei doch gar nicht mehr.
Und so ist es in der Planwirtschaft. Die Planwirtschaft hat uns fest im Griff, nur dass wir das aufgrund der neo-liberalen Sprachregelungen von Schröder, Clement, Müntefering, Tony Blair & Co. bis heute mit Kapitalismus verwechseln. Die Bürokratie der Jobcenter beispielsweise ist doch kein Problem kapitalistischen Profitstrebens, sondern Staatswirtschaft vom Feinsten. Im Wolfsfell des Kapitalismus verstecken sich die schlechtesten Eigenschaften aller Systeme mittlerweile in einer breiigen Einheit.
Und dass die Leute in der Plattenindustrie und -Promotion gereizt auf meinen Artikel reagieren werden, setze ich zwar voraus. Aber dennoch: Mein Punkt ist, dass es nicht transparent ist, wie diese Klickzahlen zustande kommen. Uns steuern hier ab einer Zahl, die 7.000 – 8.000 Klicks oder Gefällt mir’s übersteigt, überwiegend Algorithmen. Alles, was da drüber liegt, sind keine organischen Zahlen, die primär aus Geschmack, Gefühl, Interessen von Menschen entstanden sind.
Auch Börsenkurse werden mittlerweile von Maschinen bestimmt, die berechnen, was in ein paar Monaten voraussichtlich wie gehandelt werden wird. Menschen haben darauf nur noch geringfügigen Einfluss, und so weit möchte ich es in der Musikindustrie nicht kommen lassen. Betonen möchte ich, dass mir nicht VP diese komischen Zahlen vorgelegt hat, sondern ein relativ kleiner Vertrieb.
Ich versuche mal möglichst kompakt zu antworten:
1) und 2) lassen sich zusammendampfen auf: gesetzgeberische Regulierung hinkt ca. 10 – 15 Jahre hinterher in dem Bereich. Das von dir beschrieben Prozedere ist heute weder eine Überraschung (denn es ist ebenfalls seit sicher einer Dekade bekannt) und passiert auch zu Teilen im Browser des Users und damit per Defintion transparant. Dass die Gesellschaft erst jetzt aufschreit ist und “Facebook-Skandal” ruft ist mir ein absolutes Rätsel. Wir haben einfach als Gesellschaft und als Gesetzgeber jahrelang die Augen verschlossen vor der Realität (yay, Digitalisierung ist voll geil, scheiß doch auf die Daten) und nun, da das Kind in den Brunnen gefallen ist (nein, vielmehr gibt es nun eine breite Öffentlichkeit, in den Brunnen gefallen ist das Kind schon vor Jahren), schreien alle. Das ist meine Position, als jemand mit technischem Sachverstand. Mir ist dabei klar, dass den nicht jeder hat und auch nicht haben kann. Datenschutz ist aber seit Jahren ein Nischenthema.
Mir ist auch ein Rätsel, warum das jetzt erst hochkocht. Die Themen rund um Facebook und Cambridge Analytica waren doch bereits vor einem halben oder Dreiviertel Jahr auf dem Tisch. Ja, OK, dass Cambridge Analytica ein paar zusätzliche Daten gescraped hat ist neu… aber hey… ernsthaft. Wir haben damals auch zu dem Thema das Auge zugemacht.
3) verstehe den Punkt, geht mir aber zu weit vom Thema weg… und auch die Systemdebatte war nicht intendiert.
Einen vierten Punkt sprichst du, ohne ihn nummeriert zu haben, an: Intransparenz von Algorithmen. Auch dies ist eine Frage gesetzgeberischer Regulierung. Ist aktuell ebenfalls nicht gewollt. Die übliche Position ist aktuell: Algorithmen sind Geschäftsgeheimnisse. Wenn ich das recht erinnere geht auch die einschlägige Rechtssprechung in diese Richtung. Massive Regulierung wäre dringend, dringend notwendig, auch wenn die technische Machbarkeit hier noch eine sehr große, nicht kalkulierbare Variable ist und ich auch denke, dass die Zeit dafür das effektiv zu tun längst vorbei ist. Die Forschung im Bereich der Nachvollziehbarkeit von künstlichen, neuronalen Netzen (die Basis für vieles was heute unter “Big Data” oder “Machine Learning” firmiert) in all ihren Spielformen ist am Anfang. Wir reiten schon, obwohl wir gerade mal die Spezies Pferd kennengelernt haben und merken nun, dass wir extrem wackelig im Sattel sitzen und wir in eine Zukunft reiten in der externe Entscheidungen, die Einfluss auf unser echtes Leben haben, nicht transparent, diskriminierend und stereotyp-verstärkend sind und wir haben als Gesellschaft nicht die leisesten praktischen Ansatz damit umzugehen.
Und ganz ehrlich: den Impact, den das auf das Musikbusiness hat, finde ich im Vergleich dazu gerade zu lächerlich. Musik wird die geringste Sorge derer sein, die in einer unregulierten, zunehmend durch Algorithmen geregelten Zeit aufwachsen oder leben.
Damit will ich nicht deinen Punkt invalidieren, aber ich muss gestehen, dass ich das einfach ignoriere. Ich kaufe Platten, habe meine Informationsbeschaffungsmechanismen, meine Bewertungskriterien. Ich fühle mich aktuell sehr frei von solchen Zahlen und externen Einflüssen.
Das MusikBUSINESS war immer ein Kampf um Aufmerksamkeit. Dieser Kampf ist einfach nur verschärft worden durch immer mehr Verfügbarkeit von globalem Ausmaß. Das ist nicht die Schuld von Plattenfirmen oder Labels. Rein sachlich betrachtet ist das ein externer Einfluss auf eine Industrie. Die Industrie versucht mit Händen und Füßen dem noch Herr zu werden. Quantifizierung von Likes und der ganze Scheiß sind nicht mehr und nicht weniger als eine Inkarnation dieses Versuchs in dieser Menge noch herauszustechen. Die globale Verfügbarkeit der Ware Musik ist vllt. die eigentliche Krux… das mag initial auf mentale Gegenwehr stoßen, aber ich bin Fest davon überzeugt, auch wenn ich mich über diese Auswahl freue.
Beste Grüße
Thomas
Gut, es mag vielleicht nicht die Schuld von Labels sein.
Aber wichtig ist es, denn Journalisten haben oft nicht den richtigen Umgang mit Zahlen, Statistiken, Tabellen, Software usw. Radio ist jedenfalls durch algorithmische Zusammensetzung der Playlists in den Tagesprogrammen (1 LIVE, Bayern 3, HR 3, NDR 2, SWR 3, NDR 2, …) ordentlich verhunzt worden. Und da diese Sender aber viel Strukturmacht, beispielsweise viel eher Interviews bekommen als ein Lokalsender, weil sie auch noch auf mehr Reichweite und Marktanteil verweisen können, ist es wiederum so notwendig geworden, auf die Social Media-Kennzahlen zu verweisen.
Wer in den großen Stationen nicht läuft, ist vielleicht wenigstens im Internet präsent. Die Algorithmen-Misere der Öffentlich-Rechtlichen unterstützt, dass man den Algorithmen der Social Media eine Rolle beimisst. Noch findest du sie lächerlich, ok.
Aber mich stört, dass ein Label sagt, sie vermarkten die guten Menschen, die erhaben über dem System schweben – und gleichzeitig verhalten sie sich völlig systemkonform.
Man kann durch die Informationswelt noch ganz gut durchsteigen, wenn man sich auf bestimmte Musikrichtungen fokussiert.
Es gibt aber Leute, die hören eine Zeitlang mal mehr Blues Rock, dann mehr Jazz und Folk, und plötzlich interessieren sie sich vielleicht wieder für Soul und Funk, wollen da einsteigen, nachdem sie ein Jahr lang ganz andere Musik gehört haben.
Und dann fällt die Orientierung schwer. Menschen, die nicht in einem Genre verwurzelt sind, müssen auch auf Spotify sehr, sehr lange wieder andere Musik hören, z.B. hören sie ein paar Wochen vor allem Musik der Sorte A, z.B. Dub, bekommen sie auch Monate später immer weiter dauernd Dub vorgeschlagen, bis die Maschine begreift, oh, hoppla, der User hat auch vielleicht Interesse an 70er-Jahre-Reggae.
Und ganz wichtig: Nicht jeder sitzt gerne am PC, was ich bei dir mal als gegeben annehme. Aber für viele ist der PC nur Mittel zum Zweck und kein Hobby/Beruf/Faible “Computer”.
Hey Philipp,
bzgl. der Play-Rotation auf Radiostationen kann ich nichts sagen, kann mir aber gut vorstellen, dass es so ist wie du schilderst… und das ist natürlich nicht sehr günstig für kleinere Artists.
Und bezüglich der Dinge wie Spotify: da hast du natürlich total recht. Und das ist ein Problem. Ich selbst verwende solche Plattformen nicht und recherchiere gern selbst. Es würde dort helfen, wenn die Nutzer mehr Mitspracherecht in dem für sie benutzten Algorithmus hätten. Oder ihn zumindest resetten könnten für sich.. oder dergleichen… vllt. sogar “Warum wurde mir dieser Song angezeigt”. Aber das ist technisch, würde ich vermuten, eine nicht-triviale Angelegenheit. Ich würde es aber begrüßen!
Cheers
Thomas
Salut Philipp,
ich hab versucht, alles zu verstehen, was ihr euch bisher erzählt habt. Aber am meisten interessiert mich das Folgende:
Du steigst in deinen Text ein mit “Wenn wir Journalisten mit neuer Musik bemustert werden, wird uns gerne ein PDF voller Zahlen übermittelt: …”
Wie oft ist das bei dir schon vorbekommen?
Ich schreibe selbst seit über 10 Jahren über Musik und habe in dieser Zeit maximal ein oder zwei solcher Zahlen-E-Mails bekommen. Darin wurde aber maximal auf YouTube-Views zum neuesten Video hingewiesen.
Persönlich ist mir egal, welche Zahlen Künstler haben. Wenn die Musik gut ist, schreib ich drüber.
Deine Ausführungen klingen für mich, als ob die gesamte Menschheit nur noch computerisiert mit Musik bespielt wird und keine eigene Willenskraft mehr vorhanden ist, um selbst was zu suchen und zu finden – mal etwas überspitzt formuliert.
Klar, es gibt Plattformen und Algorithmen, aber es gibt auch gesunden Menschenverstand und Neugier. Neben Algorithmen gibt es ja auch Suchfunktionen, Mixtapes, Tanzveranstaltungen zur Weiterbildung.
Liebste Grüße
Nils
Hi Nils
Dem stimme ich vollends zu, habe es selbst nicht so gut formuliert bekommen. Danke!
Cheers
Thomas
🙂 Danke. Ich hätte gern noch ein paar Worte von Philipp dazu gelesen.
Liebe Grüße
Vielen Dank für den interessanten Artikel. Social Media ist wirklich ein wichtiger Bestandteil der Musikbranche.
Mit besten Grüßen,
Daniela
Sehr interessanter Artikel. Ich glaube Social Media wird tatsächlich von vielen sehr unterschätzt, ist aber wirklich wichtig in der heuten Zeit. Sollte bzw. muss sich jeder damit beschäftigen, der in dieser Musikbranche tätig ist.
Beste Grüße