Protoje “A Matter Of Time” (Indiggnation Collective/Mr Bongo)

Protoje Album Cover A matter of time

Protoje
“A Matter Of Time”
(Indiggnation Collective/Baco – 2018)

Yeah! Ich hätte nicht gedacht, dass es so losgeht, wie in „Flames“. Die erste gesamte geschlagene Minute instrumentaler Score mit Geigen, also so etwas wie Filmmusik. Geschult an Ouvertüren aus der Romantik der 1840er Jahre, italienische Oper, Verdi. Ein Gitarrenriff, ein dichtes Netz aus Drums, Soundeffekte-Gewitter, noch intensiverer Geigen-Donnerwetter. Nach drei Minuten eine Bridge, die vor Spannung berstet, also ein Song-Mittelteil, der wiederum wie ein eigener Song im Song wirkt und auch anders instrumentiert ist.

Ein kurzer Rap löst zwischen 3‘45‘‘ und 3‘52‘‘ die Kulisse auf und in der fünften und letzten Minute zersetzen Flammen („Flames“) das aufgeregte Chaos. „System fails and flops“, so die Diagnose. Naja, mag man einwenden, im Hiphop haben schon viele so etwas gebracht, das Science-Fiction zitiert und ein bisschen auf große Effekte und Violinenspiel gesetzt, z.B. Psy4 de la Rime aus Frankreich und so viele andere.

Ja. Mag sein. Aber selten hält jemand die gesamte erste Minute den Mund und sehr selten schafft es jemand, zwischendrin die Dynamik-Karte zu spielen.

Ein Einstiegssong für anspruchsvolle Hörer/innen

Musiktheorie

Quelle: Baco Records / Pic: Nkosi Gomez

Ein bisschen Musiktheorie: Musik hat ja, so lernt man es in der Musiktheorie, nicht nur Harmonien, Akkorde, Töne, Melodien, Rhythmus, Takt, Tempo, Intensität. Sie hat auch Lautstärke und Dichte. Spielen an einer Stelle plötzlich alle Instrumente auf, die zuvor drei Minuten lang nur getrennt zu hören waren, wummert die Bass Drum an dieser Stelle und wirkt dann alles laut, bombastisch, schwülstig, und folgen dann auch wieder „piano“, also leise gespielte Passagen, getragene Balladen-Momente mit Geige und Hi-Hats, dann ist der Song dynamisch. Und der hier ist nicht nur das, sondern er ist das bei einer insgesamt hohen Geschwindigkeit. Lustig-sarkastisch der Schlusspunkt.

Chronixx, der wiederkehrende Gast

Ein kraftstrotzender Einstieg in Protojes “viereinhalbten” Longplayer .

Der zweite Song, auf dem außer bei „Flames“ Chronixx am Mikro mithilft, ist „Guarantee”. Der Song lebt außer vom Kontrast zwischen der Falsett-Tonlage von Chronixx und dem leicht näselnden Toasting von Protoje (vergleichbar dem „Criminal“-Song 2014) auch von ein paar Kleinigkeiten:

– einem mit brutaler Basswucht untergehämmerten Dreiklang,

– dem eleganten, flüssigen Übergang zwischen Refrain und Strophen (was dem Song viel Fluss und eine gewisse “hey-wir-warten-nicht-und-haben-hier-viel-zu-erzählen”-Dringlichkeit gibt). Und, obwohl die Chronixx-/Protoje-Kollabo und die Single-Auskopplung den Szene-Eingeweihten „Hit“-Alarm signalisiert, ist der Song nicht aufs erste oder zweite Hören einprägsam.

Gerade seine düstere Klangfärbung und Schlag- und Tiefenlastigkeit ohne nette Verzierungen machen ihn geheimnisvoll. Was bei Schokolade Kakaoanteil 60% ist und „Edelbitter“ heißt, ist auch hier der Fall: Lieber herb als süßlich.

“Blood Money” und “Truth & Rights” – zwei gute Singles von 2017

Auch ein Jahr nach der Veröffentlichung und nach ca. 200 Mal Hören berührt mich der Track „Blood Money“ noch wie beim ersten Mal. Hier sei auf frühere Beiträge verwiesen.

Auffallend ist, dass die bisher mitwirkenden Damen Lila Iké und Sevana nicht in Erscheinung treten. Die beiden sind ohnehin mit eigenen Aufnahmen beschäftigt, an denen Protoje auch fleißig mitarbeitet. Aber auch ein tatsächlich eingestiegener Gast gehört zu Protojes Indiggnation Collective: Mortimer.

Auf der Single „Truths & Rights“ kann man sich von seiner Gesangsqualität überzeugen. Protoje bereut heute, den Tune „Protection“ (2014) nicht als Single promotet zu haben. Er liebt den seit Anfang 2015 veröffentlichten Song mit Mortimer auch nach zahlreichen Aufführungen (bis heute). Mortimer hat sich bereits dazu bekannt, Richtung Experte für Ganja-Songs gehen zu wollen. Bislang bleibt es weitgehend still um seine Songs. „Personal issues“ nennt Protoje im Sommer 2017 im Interview als Grund.

Die weiteren Tracks auf “A Matter Of Time”

Jenseits der ganzen, vielen, tatsächlichen Singles ist „Like This“ der geheime Hit des Albums, so etwas wie sein – neues – „All Will Have To Change“: mit funky-Retro-Charakter, ein wunderschöner Melody Tune, der als Album Cut auf Position 4 sein Dasein fristet, wie es das ähnlich ausgefeilte „All Will Have To Change“ auf „Ancient Future“ tat.

„Bout Noon“ wirkt wie ein verirrtes Überbleibsel aus der „Royalty Free“-Kollektion mit den Free Download-Liebessongs. Ein starkes Lied ist es dennoch nicht.

Der Titelsong „A Matter Of Time“ zeigt, dass Protoje die nette Technik des Stabreims entdeckt hat: „Middle of Mexico at midnight“. Der einzige Song, der dubby wirkt, ist „Lessons“, der achte Tune.

Quelle: Baco Records / Pic: Chance Nkosi Gomez

Doch worum geht es im letzten Song, stark betitelt: „Camera Show“? Um Protojes viele Interviews? Seinen Instagram-Account? Das ist nun überraschend. Protoje postuliert: Die neuen Medien, der niederschwellige Zugang dazu, dass fast jeder von uns mit selbst geknippsten Bildern z.B. auf Missstände öffentlich hinweisen kann, das alles lässt alte Machtstrukturen zerbröseln.

Das Gute am Internet sei, „now the kingdom falling, falling“, dass die Welt etwas basisnäher, demokratischer werde. Versteckte Lügen würden leichter aufdeckbar, so meint Protoje. Vorherige Limitierungen im Kopf verschwänden, je mehr Informationen kursierten.

„Empower the women, empower the nation!“

Protoje auf der Seite des Feminismus. Geld, Religion, Politik, die alten Stellschrauben der Ordnung auf der Welt, würden aufgrund der Sichtbarmachung aus ihrer Verankerung kullern.

Doch während die Instrumentalminute am Albumende Zeit zum Nachdenken offeriert, bleibt der Text auch an dieser Stelle stehen. Was danach kommt und inwieweit auch die Weltordnung der „Camera Show“ auf dem Gedanken der Zurschaustellung statt des Könnens und der Leistung aufgebaut ist, das bleibt offen. Oder dafür ist keine Zeit. Dabei geht’s ja um Zeit, “A Matter Of Time”.

Fazit zum vierten Protoje-Longplayer

Es ist dann ein starkes Album, wenn man nur ein paar neue Impulse spüren will. Beim Kauf des physischen Tonträgers kann sich leicht mal die Frage stellen, ob die Songs nicht genau so angeordnet sind, wie es zu klassischen Vinyl-Zeiten war. (Der letzte Song der A-Seite ist der austauschbarste, der erste Song der B-Seite nett, aber reißt nicht vom Hocker, der dritte Song der B-Seite ein schnell vergessenes Füllstück. Die Perlen müssen, wie bei einem guten Vortrag, am Anfang und am Ende stehen.)

Auf der CD (ohne Seitenwechsel) führt das in der Mitte zu zwei schwachen Tracks hintereinander, dann wieder einem markanteren, dann wieder einem farblosen. Und genau das macht die CD als Format hier unattraktiv.

Von Protoje sind wir längst gewohnt, dass er auch per „WAV“-File publiziert. Die einzelnen Titel haben miteinander nun einmal gar nichts zu tun, so dass man von den Einzel-Tracks auch mehr hat. „Ancient Future“ war durchweg stark und hatte eine Idee: wie es in der Bezeichnung steckt, das Retro-Futuristische. „Ehemalige Zukunft“, der Oberbegriff passte. Hier passen die Songs „Flames“, „Blood Money“ und „No Guarantee“ musikalisch zusammen. Und die Songs „Flames“, „Blood Money“ und „Camera Show“ stehen textlich auf einer Linie.

Die Idee wäre, in Fortführung von „Ancient Future“, das Ende der alten, korrupten Eliten – aufgrund des Widerstands, der durch Social Media und Fotobeweise entsteht. Das ist der textliche rote Faden. Musikalisch ist die Kernidee nun nicht mehr, die 70er Jahre zu plündern, sondern alte und neue Welt inhaltlich aufeinander prallen zu lassen – die analoge Meritokratie und die digitale Viralverbreitung.

Philipp Kause

About Philipp Kause

Philipp hat Musikethnologie studiert und verschiedenste Berufe in Journalismus, Marketing, Asylsozialberatung und als kaufmännischer Sachbearbeiter ausgeübt – immer jedenfalls stellt er Menschen Fragen. Er lebt zurzeit in Nürnberg, wo er die Sendung „Rastashock“ präsentiert, die seit 1988 auf Radio Z läuft.