Ruhr Reggae Summer Dortmund, Tag 1, 31.5.18

Die Nachricht, dass Seeed-Mitglied Demba Nabé gestorben ist, scheint hier auf dem RRS Dortmund am ersten Tag noch nicht angekommen zu sein.

Kein Wölkchen trübt sprichwörtlich den Himmel, und zwar ab dem Moment nicht, ab dem Train to Roots auftreten.Das Festival in Dortmund, dieses Jahr zum 6. Mal ist ein vergleichsweise junges. Doch auch in der “älteren” und auch bis heute größeren Pendant-Variante des Festivals in Mülheim an der Ruhr waren Seeed nie dabei. In den Anfangsjahren des RRS war der Auswahlrahmen an deutschen Acts mit Gewicht noch größer als heute.

Gelegenheit heute für Acts aus Frankreich wie MHD (2017) oder Yaniss Odua (2018)
aus Schweden wie Serengeti (2013) oder aus Italien hier mit Train to Roots (2018).

Je nach Sicht ist das Festival in Mülheim ein älteres Geschwisterchen des Dortmunder Festivals – oder auch ein Elternteil. Denn erst war Mülheim erfolgreich – dann wurde klar: Da ist noch Platz für ein zweites Ruhrpott-Reggae-Festival.

Einer der beiden Train to Roots-Lead-Sänger erwähnt einmal in einem Text etwas von Erleuchtung und Sonne, und: Wumm! Schon schaut sie heraus, die Sonne, strahlt seitlich auf die Bühne ein und blendet ihn fortan erkennbar. Doch die übliche Sonnenbrillen-Coolness lässt er; seine Freude darüber, dass das Publikum gut anspricht auf die Show, soll man ruhig sehen können. Sein Grinsen wird immer breiter. Obwohl das Songmarerial den meisten total unbekannt sein dürfte, zünden durchweg alle Songs.

Das Spiel mit “il sole” (der Sonne) klappt bei den Italienern auch ein zweites Mal. Kaum im Text erwähnt, verziehen sich die Restwolken, und es wird ziemlich heiß. Selten bei einem Konzert so geschwitzt. Was nicht nur an der Sonneneinstrahlung liegt:

Train to Roots bringen sehr viele Leute zum Tanzen, um die 150 der circa 350 Personen im Publikum gehen richtig mit. Überhaupt ist das Auditorium viel aktiver und reaktionsfreudiger, als sonst meistens. Später herrscht bei Beenie Man noch eine unglaubliche Stimmung, wobei der auch viel dazu beiträgt. Zwischen Train to Roots und Beenie Man wird aber auch Miwata von vielen Händen in der Luft begleitet.

Die Konzerte kommen richtig gut an, sind weitaus mehr als eine Kulisse für Zelten-Saufen-Party. Es gibt auch wenig Kommen und Gehen, die Leute bleiben auch während der Konzerte vor der Bühne. Die Atmosphäre ist locker. Sitzen auf der Erde, Stehen, Liegen, Mitwippen, Tanzen, Springen, Sitzen im Klappstuhl – die Bandbreite ist groß. Nur Kommen & Gehen, dafür entscheidet sich die kleinste Zahl der Leute.

Nassgeschwitztes Reporterhemd

Mehrere der Mitglieder von Train to Roots fragen mich nach dem Auftritt etwas fassungslos, ob’s denn in Deutschland um diese Zeit immer schon so heiß sei. Sie hatten nicht damit gerechnet, sind erst das vierte Mal in Deutschland, für einen Einzelauftritt. Auf Sardinien, der Insel östlich vom italienischen “Stiefel” im Mittelmeer, sei es nicht so heiß.

So gerne ich auch parallel bei einem anderen Festival in Würzburg Daara J aus dem Senegal zeitgleich gesehen hätte – über meine fränkische Heimat soll ein Gewitter gezogen sein. Die Senegalesen hätten sich wohl weniger wegen zu viel Sonne gewundert, eher wegen des Brummens am Himmel beunruhigt. Blitzeinschläge in Bühnenmikrofone, Überschwemmungen und Hagelstürme brachten in den letzten Jahren mehrere Festivals durcheinander (Southside, Chiemsee Summer, Sunrise) und die legendäre Veranstaltung am Chiemsee dieses Jahr zum Erliegen.

Das Gewitter war hier in Dortmund unter Ablassen eines fünfminütigen Schauers am frühen Nachmittag vorbeigezogen.

Dortmund hatte auch 2014, ’15, ’16 und ’17 schon großes Glück mit dem Wetter. Doch die Festival-Saisons 2016 und 2017 insgesamt ließen wettertechnisch in Mitteleuropa viele Wünsche offen.

Die achtköpfigen Train to Roots bringen aus Italien auch ihre Sprache mit. Sie spielen englisch und italienisch vorgetragene und sprachlich gemischte Titel. Dabei klappern sie musikalisch eine große Vielfalt innerhalb der Roots-Musiken ab.

Auf dem Facebook-Profil der Irieites.de-Community lassen sich einige Video-Mitschnitte ansehen.

Miwata ist als nächster in der Abfolge dran. Er kündigt an, dass er an einem Album arbeite, mit Texten über Jamaika. Dem grauen Shirt und Dreitagebart und einer Choreographie mit wenig Beweglichkeit bleibt er leider treu. Bei Miwata merke ich leider immer, dass er spielt um Geld zu verdienen. Das sollte man bei Künstlern nicht spüren, es zerpulvert die Faszination.

Beenie Man betritt um 20:30 als Haupt-Act die Bühne. Und betritt so ziemlich jeden Winkel und jeden Quadratdezimeter, auf dem nicht zufällig gerade ein Musiker seiner Band steht. Das Beenie Man-Konzert scheint aus drei Tracks zu bestehen, Atempausen gönnt er sich und seiner (großen) Backing Band keine.

Hinter der Bühne hatte mir der Schlagzeuger der Train to Roots, Alessandro Sedda, bereits verraten, wer eines seiner großen Vorbilder sei: der Drummer, der nun auf der Bühne ist, den Namen wisse er nicht. Sonst spiele der für Chronixx – und heute bei diesem einzigen Deutschland-Gig für Beenie Man.

Tatsächlich nicht zu viel versprochen. Auch das Beenie Man-Konzert lebt von gewaltigen Leistungen an der Schlagzeug-Apparatur, und auch von den sportlich gespielten Synthie-Keyboards. Beenie Man klettert auf den Lautsprechern herum, tanzt im Stelzenschritt, fast wie Groucho Marx einst lief, und leistet einen Querschnitt durch etliche der größten Dancehall-Riddims aller Zeiten.

Wie ein guter Redner verschiedene Punkte im Publikum anvisiert, so springt Beenie Man die Zuhörermenge auch aus verschiedenen Blickwinkeln an, denkt auch an die Leute, die seitlich zur Bühne einen Platz gefunden haben. Das wirkt! Sehr, sehr viele tanzen mit, sind in das Konzert involviert.

Nach 40 bis 50 Minuten, als es dämmert bzw. langsam dunkel wird, lässt der Ganzkörpereinsatz zwar bei Beenie Man wie auch beim Publikum allmählich nach bzw. im Publikum tanzt ein engerer Kern an Leuten noch. Doch jeder Befehl, Arme hoch, Winken, Arme kreisen etcetera wird von fast allen mitgemacht.

Beenie Man erklärt : “This is Dancehall!” Betont seine vierzigjährige Aktivität als Musiker. Da muss er früh angefangen haben. “This is Dancehall!”

Und so schlicht der Satz auch ist, lenkt er die Wahrnehmung aufs Wesentliche. Popcaan, Alkaline, Mavado, Masicka, Agent Sasco & Co.: Sie machen Pop mit Dancehall-Anteilen. Gleichzeitig lerne ich, der von Dancehall wenig weiß, gefühlt viel hinzu an diesem Abend. Artikulieren kann ich es nich nicht so richtig – aber danke, Beenie Man. Er hat mich auf diese Musik nun neugierig gemacht und mir ein “Feeling” dafür gegeben, dass ich noch nicht hatte.

Noch ein paar allgemeine Worte zum Ruhr-Reggae-Summer:

Zeitlich liegen die beiden Ausgaben des RRS immer deutlich auseinander. Der Veranstalter ist für beide derselbe: U-Sound aus Wuppertal. Doch die beiden Events sind doch in puncto Line-ups und gefühlt recht unterschiedliche Produkte.

RRS Dortmund GeländeplanIm Dortmunder Publikum findet man deutlich mehr Familien und Leute über 25, die – aus deutscher Massengeschmackssicht – Reggae-Randsegmente Dancehall und Dub finden sich hier wieder. Das Gelände ist luftiger, bietet mehr Sand und Wiese als Asphalt und ist naturverbundener. Bei beiden Festivals wird zum Glück durchgehend Wert auf eine sehr gute Akustik gelegt. Meist ist sie sogar brillant. Verkratzte, scheppernde oder übersteuerte Konzerte lässt sich das RRS an beiden Standorten nicht durchgehen. Wenn mal ein paar einzelne Takte lang was schief klingt, wird es sofort wieder gerade gezogen. Außer vielleicht, es passiert etwas Improvosiertes und eine Band springt ab (Black Uhuru 2016, ersetzt durch Ray Darwin & House of Riddim).

Im Gegensatz zu anderen Festivals ist man hier relativ organisch in den Sounds:
Instrumente vom Band, Playback oder gar Laptop-“Konzerte” versucht das RRS zu vermeiden. Ebenso gibt es keine Hetzfahrt durch unzählige Konzerte im 45-Minuten-Takt, was anderenorts gemacht wird und den Artists viel Wind aus den Segeln nimmt. Hier bekommen die Bands, so sie Repertoire haben, ihre 70 bis 100 Minuten. Wenn sie schon da sind, warum auch nicht?!

Line-up Mülheim an der Ruhr August 2018

Line-up Mülheim an der Ruhr August 2018

Mit diesen Voraussetzungen ist das RRS ein Interessantes Festival für HiFi-Nerds und Music Lovers.

Philipp Kause

About Philipp Kause

Philipp hat Musikethnologie studiert und verschiedenste Berufe in Journalismus, Marketing, Asylsozialberatung und als kaufmännischer Sachbearbeiter ausgeübt – immer jedenfalls stellt er Menschen Fragen. Er lebt zurzeit in Nürnberg, wo er die Sendung „Rastashock“ präsentiert, die seit 1988 auf Radio Z läuft.