The Rude Reminders

Foto: Ingo Beckenforsch

Foto: Ingo Beckenforsch

The Rude Reminders

In Zeiten wie diesen erinnere ich mich gerne, wie sehr sich Live-Musik immer lohnt. Ich geh’ aufs Konzert, ganz kleiner Rahmen im Gitarrenladen, und die unbekannte Vorband haut mich um. Super Sound, tight gespielt, eingängige Lieder und das ganze mit Herz vorgetragen. Danach quatsch ich die Jungs beim Einpacken an und verteile Komplimente wie Blumensträuße. Sehr offen, nett und dankbar zeigen sie sich im Gespräch. Das ist jetzt schon ein paar Jährchen her, auf jeden Fall vor Corona und jetzt endlich ist ihr unbetiteltes Debut-Album rausgekommen.

Die Wurzeln der Band gründen in Mülheim “anne Rootz” (an der Ruhr) im Jahr 2012, als sich Leo (Vox) und Ricky (Gitarre, Vox) im AZ getroffen und mit Wailers-Songs angefangen haben, Vibes zu verbreiten. Irgendwann kam Lion (Schlagzeug, Vox) dazu, der Bassist wechselte dann mal, heute sind gleich zwei Bassisten bei Bandcamp als Mitspieler auf dem Album angegeben. Kai (Keys, Vox, Produktion, Mixing, Aufnahme-Ingenieur), Kevin (Percussion, Dub-Mixing), Oni und Peter (zusätzliche Gitarren) und eine komplette Bläser-Sektion (Max, Kiril, Sebastian) vervollständigten die Band im Laufe der Jahre. Die Komplettstärke liegt momentan bei 11 Musikern auf der Bühne. Seit ungefähr 2015 steht im großen und ganzen die Besetzung und seitdem wurde auch an dem Debut-Album gewerkelt. Im Kern sind die meisten nicht einfach nur Bandmitglieder, sondern Freunde, die sich beim Entwickeln der Musik auch gerne mal auseinandersetzen. Leo und Ricky schreiben die Songs, aber jeder kann seinen Beitrag während der Entwicklung leisten; diese basisdemokratische Grundhaltung und die Begegnung auf Augenhöhe ist allen dabei wichtig. Zum näheren Umfeld gehören auch noch verschiedene Künstler, die nicht direkt zur Band gehören, die The Rude Reminders daher mehr zu einem Kollektiv als einer Band machen und sich etwa um das Cover-Artwork oder spirituelle Inspiration kümmern.

Geprobt wird nicht im Proberaum, sondern direkt im Studio: Das Urban Ark ist mit allem ausgestattet, was eine Roots-Band sich nur wünschen kann: Es ist groß, es ist gemütlich, es ist voll analog und jeder kann sein Instrument oder Amp stehen lassen, um bei der nächsten Session genau da weiter zu machen. Zur Verfügung steht ausgewähltes Equipment wie ein Roland Jazz Chorus Amp, diverse Vintage-Mikrofone und im Regieraum eine ADT-Konsole, deren Signale in einem 24-Spur-Tonbandgerät aufgenommen werden. Wenn schon von analogem Workflow die Rede ist, darf die Keyboard-Ausstattung nicht unterschlagen werden, eine traumhafte Ansammlung von Tasteninstrumenten: Rhodes E-Piano, Hammond Orgel, Hohner Clavinet, MiniMoog, nicht nur ein einfaches Upright Piano, sondern ein ganzer Konzertflügel und als Perle der raren Kostbarkeiten: ein Mellotron. Wem das nichts sagt, sollte das googeln. Standards wie Clavia Nord und diverse andere digitale Keyboards müssen in dieser Aufreihung gar nicht mehr erwähnt werden.

Die Aufnahmephilosophie ist ebenso oldschool-inspiriert: Die Riddim-section mit Schlagzeug, Bass, Rhythmus-Gitarren und Keys spielen im gleichen Raum mit Blickkontakt, als guidetracks werden oft Hauptgesang und eventuell eine Bläserlinie live in die Kopfhörer gespeist, um die Grundstimmung des Liedes zu übertragen und etwas Dynamik dazuzugeben. Die Riddim-section wird dann direkt auf Tonband in der Regie aufgenommen; Hauptgesang und Harmonien, zusätzliche Gitarren, Bläser und Percussion werden später overdubbed. Erst ganz zum Schluss landen die Signale auf dem Computer.

Bei diesem ganzen Retro-Ansatz ist leicht nachzuvollziehen, wie die Vibes entstehen, denen sich die Band verschrieben hat. Die Haltung von Sound, Word and Power wird im altbekannten und bewährtem Gewand ausgedrückt und dabei entsteht Roots Reggae, der sich glasklar an den Vorbildern der Golden Era orientiert. Der Klang, die Botschaften und die Attitüde, die durch die Performances scheint, sprechen eine Sprache, die für die Unterdrückten und Machtlosen eintritt als wollten sie an die Wände schreiben: Hört her, das ist zu wichtig, um immer wieder jeden Tag aufs Neue vergessen zu werden. Und: mit uns muss gerechnet werden. Das Ganze in einer insgesamt klassisch langsamen Gangart, die jeder Note, jedem Trommelschlag zusätzliches Gewicht verleiht.

Musikalisch besonders bemerkenswert, abgesehen vom sehr angenehm runtergehenden Songwriting, dem tighten Vortrag aller Beteiligten und dem sahnigen Klang, sind die gesungenen Harmoniestimmen. Und zwar allesamt männliche: Keyboarder, Hauptgitarrist und Schlagzeuger singen gekonnt mit und verstärken den Hauptgesang durch changierende Stimmen, die einen endgültig in die Main Time der 70er Jahre zurückversetzen, als die Vocaltrios noch King waren.

The Rude Reminders sind ein verdammt gut eingespieltes Musik-Kollektiv, das alle Voraussetzungen hat, die Bühnen jener Reggae-Herzen zu entern, die im dritten Jahrtausend mit einem Ohr noch im letzten Jahrhundert verweilen möchten und nicht genug kriegen von dem bomboclaat vibe, der hier so eiskalt serviert wird. So versiert die Jungs musikalisch sind, fällt davon leider nicht viel auf ihre Social-Media-Skills ab: Bei Facebook etwa wurde Anfang Oktober das Album-Release verkündet, seitdem schweigt die Seite. Wer sich die Rude Boys also anhört und wem es gefällt: sofort liken, Reposten und an Freunde verschicken! Denn dies ist keine Band, die den Ansatz pflegt, von einem großen Label kuratiert zu werden, sondern auf die große Stärke der neuen Medien angewiesen ist: unabhängig in der Kunst zu bleiben und durch grassroots-Propaganda die Leute zu erreichen. Solange flächendeckend und vollumfänglich eh noch keine Konzerte gespielt werden können (wann ist es endlich wieder soweit?!), bleibt Musikern vorerst nur das Web 2.0, um sich einem Publikum zu präsentieren.

Das Debut-Album ist bisher digital bei den üblichen Streaming Diensten erschienen, eine Vinyl-Version soll demnächst veröffentlicht werden. Jede Menge Infos, Videos, Bild- & Ton-Material gibt es hier:

https://www.ghettointernational.com/trr

https://peacemekah.bandcamp.com/album/the-rude-reminders

https://www.facebook.com/TheRudeReminders/

 

 

P.S.: Leo Liedgesang ist übrigens der Sohn von Eva Kurowski, Jazz-Dame aus dem Dunstkreis von Helge Schneider und ebenfalls sehr hörenswert; Anspieltipp vom Album “Reich ohne Geld”: Mutter Natur. Sehr sehr geile Texte!

About Fabian

Schreibe, singe, spiele, produziere, höre, schaue, tanze und jetzt kommentiere ich auch Reggae inna Roots-Style mit aktuellem Anspruch.