Protoje „In Search Of Lost Time“ (RCA Records)

Protoje
„In Search Of Lost Time“
(RCA Records – 2020)

Eines muss dem Protoje diesmal aber hoch angerechnet werden. Er hat ein Album ganz nach seinem Geschmack gemacht. Auch, wenn es lediglich eine Weed- und Hip Hop-Platte geworden ist. Mit seinem neuen Album outet sich dieser Artist mit dem richtigen Namen Oje Ken Ollivierre nun endlich als das, was er scheinbar schon immer gewesen ist – als ein großer Hip Hop-Fan.

Also pumpen die massigen Drum-Loops – von typischem Reggae-Offbeat fehlt hier jede Spur – auf der neuen Platte was das Zeug hält. Die runden, fetten Bässe rollen wie Chevrolet Impala auf einer sonnigen Küstenstraße, unterwegs zu noch einer Party mit leger tanzenden Girls. Protojes neue Songs haben schon televisionäre Züge angenommen. An der schwärmerischen Marihuana-Huldigung „A Vibe“ ist sogar der US-Rapper Wiz Khalifa beteiligt gewesen.

In „In Search Of Lost Time“ geht Protoje seiner Faszination für Zeit als solche weiterhin wie auf den letzten Platten „Ancient Future“ und „A Matter of Time“ nach, doch ist das neue Album persönlicher und introvertierter als alles, was dieser jamaikanische SingJay und auch Rapper bislang gemacht hat. Während der halb akustischen „Strange Happenings“ lässt Protoje traumwandlerisch seine Kindheit und Erwachsenwerden nochmals Revue passieren.

In einem unlängst gegebenen Interview gab Protoje zu, während des Corona-Lockdowns mehr zu kiffen als gewöhnlich. Und vielleicht sind die inneren Welten, die Protoje auf seinem neuen Album erkundet, direktes Ergebnis der außergewöhnlichen Umstände. Doch die Verwerfungen unserer jetzigen Zeit haben in Protojes neuem Album keinen Zutritt. Es ist eine Art Beat-betriebener Realitätsflucht, psychedelisch und nostalgisch zugleich. In der trappigen Koffee-Kollabo „Switch Up“, dem ersten von insgesamt zehn neuen Songs, zirkuliert eine weltentrückte Gitarrenmatrix, während im Hintergrund klackende und raschelnde Sounds zu vernehmen sind.

Auf Twitter nannte Protoje sein neues Album einen Paradigmenwechsel für die jamaikanische Musik, doch sein Reggae ist eher eine Anbiederung an den US-Markt, als eine Neuausrichtung. Es ist ein Instagram-Reggae, der durch künstliche Hip Hop-Ästhetik Filter aufgemotzt ist. Aber befreit von nahezu allem ist, was ihn im Kern ausmacht. Und das Wenige, was von Reggae auf „In Search Of Lost Time“ übrig geblieben ist, wird lediglich als Feigenblatt verwendet um Protojes offensichtlichen Sinneswandel zu bedecken. Die einfach gehaltenen Instrumental-Schnipsel lässt er in Endlosschleifen wiederholen und von eingängigen Refrains begleiten, so wie es eben im Hip Hop üblich ist. Tatsächlicher Reggae, wenn er überhaupt Mal stattfindet, wird lediglich als Eröffnungs-Sampel eingespielt, wie in „In Bloom“ mit Lila Ike, einer sehnsüchtigen R’n’B-Ballade mit traumversunkenen Streichersequenzen.

Als der prominenteste Akteur des neuen jamaikanischen Reggae Revivals, ist Protojes Hip Hop-Schwenk verblüffend allemal. Hat er sich doch für eine Musikrichtung entschieden, die das Babylon System nicht bekämpft, sondern seine Gewaltexzesse, Pomp, Protz und Kitsch abfeiert. Hip Hop ist keine Musik der Unterdrückten (mehr) wie es Reggae ist – oder zumindest sein sollte – sondern derjenigen, die dazu gehören wollen. Vielleicht möchte Protoje das letztendlich auch.

Zvjezdan Markovic

About Zvjezdan Markovic

Immer auf der Suche nach neuen und alten Sounds, hat aber auch seit über 10 Jahren die schlechte Angewohnheit, darüber zu schreiben. (E-Mail zvjezdan[at]irieites.de)