Reggae Jam, Bersenbrück, 3.-5.8.18, Vorschau #1 – Cocoa Tea, Samory I, Capleton

Ganze zehn Jahre ist es her, dass Cocoa Tea ein neues Album vorlegte. Seither verging kein Jahr, ohne dass er auf mehreren Samplern mit Klassikern vertreten war. Der letzte frische Song datiert aus dem Juni 2016 an der Seite von Kirkledove auf einem überdies recht interessanten Album voller “Featured Guests”. Das Reggae Jam in Bersenbrück macht es sich stets zum Auftrag, ein paar der zu Unrecht “Vergessenen” aus dem Reggae und Dancehall früherer Jahrzehnte ins Jetzt einzuladen.

So kamen im Jahr 2015 z.B. Triston Palma oder Lisa Dainjah und im Jahr 2016 z.B. ein hervorragend gestimmter Leroy Gibbons. Mit Cocoa Tea wird nun im August 2018 ein besonders politisch orientierter Künstler vertreten sein. Er hat schon Songs über biochemische Waffen, Barack Obama, Krieg im Irak und – sieh an – die Folgen der Digitalisierung gemacht. Da er heute nur selten die Gelegenheit zu Live-Auftritten in Europa bekommt und über unendliche Wortgewalt, intellektuelle Substanz, Leidenschaft und Gespür für Dancehall mit Message verfügt, ist der Kakao- & Tee-Mann schon mal ein “Unique Selling Point”, schlagendes Verkaufsargument für ein Reggaejam-Wochenendticket.

Den Nächsten, Capleton, könnte man je nach Standpunkt nicht zu den “zu Unrecht Vergessenen”, sondern zu den “zu Recht Vergessenen” zählen. Noch wahrscheinlicher ist, dass er trotz zeitweiligen de facto-Auftrittsverboten (innerhalb der “Schengen”-Zone) vielen in der Szene in schillernder Erinnerung ist. Zu seiner Musik (die Texte mal beiseite genommen) fällt mir ausgesprochen wenig ein, obwohl ich sonst üblicherweise viel schreibe. Bezüglich der Live-Darbietung und der Soundfarbe habe ich zwar Perfect Giddimani im Ohr. Lutan Fyah, einer der engeren Kollegen von Perfect, soll sich jedoch früher missmutig über Capleton und dessen Auslegung des Rastafarian Lifestyle geäußert haben.

Was die Shows angeht, tanzt Capleton nicht so elegant wie z.B. Perfect. Er hat weniger ganz krachend schnelle Tunes und – am anderen Ende der Tempi – nicht so sehr die gefühlvollen Feuerzeug-Schwenk-Lieder. Allerdings sind eine (maßvoll) abwechslungsreiche Musikdramaturgie, lebhaft blinkende Lichtwechsel und kantige Ansagen bei Capleton schon zu erwarten. Performance statt nur Präsenz – so viel ist ziemlich sicher.

Den Kontroversen um ihn folgte 2010 mal ein vereinzelter Auftritt von Capleton in Deutschland. 2013 war er wieder auf ausgedehnter Europa-Tournee zu sehen, 2014 z.B. in  Frankreich auf einem Festival, 2015 z.B. in Ostróda (Polen) und Rototom (Benicàssim, Spanien). All das zusammen zeigt, dass er wieder zu den “normalen” Line-Up-Entscheidungen dazugehören dürfte. Zu seinen Texten und den Streitigkeiten darüber ließe sich hingegen so viel schreiben, dass abendfüllender Lesestoff entstünde.

Um es kurz zu machen:

Capleton hat im Jahre 2007 oder 2008 den so genannten “Reggae Compassionate Act” unterzeichnet. Damit verpflichtet er sich, keine Lieder mit homophoben (d.h. z.B. keine mit schwulenfeindlichen) Textinhalten aufzuführen. Nicht eindeutig geregelt ist, ob er sich somit auch von bereits früher veröffentlichten Songs distanzieren muss, die in diese Richtung gehen, und rund um Veranstaltungen bzw. auf der Bühne und in Interviews auch keine diesbezüglichen Aussagen machen darf, welche Minderheiten abwerten könnten. Was ich mich tatsächlich frage, ist: Für wie viele Leute ist Capleton jetzt ein “Must Have”, ein Anreiz für einen Ticketkauf? Nach doch schon wieder langer Auftrittspause und 8 Jahren seit dem letzten Album ist die Ankündigung jetzt ein Test seiner momentanen Beliebtheit in Deutschland. Im Juli wird er 51 und damit einer der älteren Sänger beim Reggaejam Anfang August sein.

Der Dritte im Bunde der bereits Feststehenden ist ein Newcomer und doch ein alter Bekannter – zumindest für die Besucher/innen der 2016er-Ausgabe des Reggaejams in Bersenbrück: Samory I. Damals trat er nachmittags auf, während es regnete. Circa 200 – 250 Leute harrten im Publikum aus, eine schwache Phase mit einem noch etwas unsicheren Künstler. In diesem Fall kann man die Reggaejam-Veranstalter als Newcomer-Spürnasen bzw. Spürohren bezeichnen. Denn in der Zwischenzeit ging Samory I in manchen Medien ziemlich durch die Decke. DJs wählten ihn in den “Global Reggae Charts” im letzten Sommer an die Spitze, und auch einer unserer Autoren wählte das von Rorystonelove produzierte erste Album von Samory I unter die Top 5 des ganzen Jahres: “Black Gold”.

Der Fairness vielen anderen Artists gegenüber möchte ich anmerken: Man könnte total viele Newcomer mit demselben Recht und derselben Intensität “hypen” und “pushen” – aber sei’s drum. Samory I hat auch seine Alleinstellungsmerkmale. Beispielsweise ist sein Gesang stilistisch der klassischen Soul- und R’n’B-Intonation nahe. Die Frage ist, ob er damit auch schwierige Cover-Versionen meistert, also Gesangslinien, die nicht für ihn geschrieben waren, wie in “Is It Because I’m Black”. Marvin Gaye-Anhänger/innen werden mit seinem Gesang aber im Allgemeinen, und auch mit manchen der bläserverzierten Arrangements von Rorystonelove Spaß haben:

Das Timbre in der Stimme von Samory I mag Geschmackssache sein (nicht mein persönlicher Fall), aber viele ältere Szene-Insider vermissen vielleicht den “neuen” Garnett Silk. Und ich finde, um diese leere Stelle in der jamaikanischen Musik bewerben sich absichtlich oder unabsichtlich zur Zeit Leno Banton (“Skydive”), Samory I (“Rasta Nuh Gangsta”, “African Daughter”) und aus den weiblichen Stimmen Lila Iké (“Got It For You”, “Biggest Fan/Dub”).

Fazit: Die ersten drei Ankündigungen sind a) ein unschlagbarer Punkt für Fans älterer Musik mit Message, b) eine (wahrscheinlich gut überlegte) Provokation und c) die folgerichtige Förderung einer Stimme mit Zukunft.

Und jetzt? Doch noch ein Capleton-Video? Okay, wir wollen ja keine Moralwächter und Geschmackskontrolleure sein. Bitteschön 🙂

Philipp Kause

About Philipp Kause

Philipp hat Musikethnologie studiert und verschiedenste Berufe in Journalismus, Marketing, Asylsozialberatung und als kaufmännischer Sachbearbeiter ausgeübt – immer jedenfalls stellt er Menschen Fragen. Er lebt zurzeit in Nürnberg, wo er die Sendung „Rastashock“ präsentiert, die seit 1988 auf Radio Z läuft.